Kitschratten

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Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013

Kitschratten

246 × 242 × 215 mm
Polyester, Plastik, Füllwatte
Fundort: Leipzig, Völkerschlachtdenkmal
Funddatum: 15. August 2012

Zwei Ratten auf einem Herz als kitschtriefendes Plüschtier aus Polyester, verkauft von einer Gruppe Junggesellinnen vor dem Völkerschachtdenkmal – ein Gedanke zur Erinnerungskultur

Unter dem Kichern ihrer angetrunkenen Freundinnen drückt uns die Noch-Junggesellin erleichtert ein Plüschtier in die Hand. Unsererseits erleichtert, so der Meute entkommen zu können, drücken wir ihr zwei Euro in die Hand und steigen die Stufen des Denkmals hinauf. Die Endzwanziger winken noch einmal eifrig und zerren die müde Frau und ihren Bauchladen zu ihrem nächsten Opfer. Nachdenklich drehe ich das erworbene Plüschgebilde in meinen Händen, streiche über den Polyesterpelz der zwei Ratten auf ihrem Polyesterherz. Warum haben sich die Damen gerade das Völkerschlachtdenkmal als Ort für ihren Ramschverkauf ausgesucht? Für einen spaßigen Junggesellinnenabschied strahlt das wuchtige Bauwerk in unserem Rücken doch reichlich schlechte Laune aus. Oder wirkt es nur auf mich so? Hat das Bauwerk für sie eine andere, vielleicht sogar positive Bedeutung? Und ohnehin, warum haben wir uns unsererseits auch ausgerechnet diesen Ort für einen romantischen Ausflug ausgesucht?

Völkerschlachtdenkmal Mein Freund sitzt neben mir, blickt zufrieden und entspannt auf das Leipziger Panorama, das sich uns von diesem Punkt des Denkmals aus bietet. Als Italiener, erst kurze Zeit in Leipzig, wollte er schon lange mit mir hierher kommen, zum Denkmal der großen Battaglia di Lipsia. Die Battaglia, die Schlacht, war das einzige was er mit dieser Stadt verband bevor er hierher kam, was er im Geschichtsunterricht vor Jahren gelernt hatte. Als große und bedeutende Schlacht in der Geschichte Europas wurde sie ihm präsentiert, was Leipzig fast ebenso viel Platz im Unterricht einräumte wie Berlin, München und Buchenwald: Kriege und Schlachten als die entscheidenden Momente europäischer Geschichte derer es zu gedenken galt.
Das Monument dieser Battaglia di Lipsia war daher also etwas, das er unbedingt mit mir gesehen haben wollte – wogegen ich mich lange sträubte. Nach meinem eigenen Umzug nach Leipzig war das Bauwerk eines der ersten welches ich hier bewusst wahrnahm, thronte es doch bei jedem Blick aus dem Fenster meines WG-Zimmers unheilvoll und unübersehbar am Horizont. Als Mahnmal, wie es oft genannt wird, durfte es ja abschreckend wirken, aber meine instinktive Abneigung ging darüber hinaus. Bald stellte ich mir die Frage, vor was das Denkmal überhaupt mahnte, wem es gedenken wollte. Den Schrecken des Krieges, den tausenden Toten, dem zweifellos großen Leid der Stadt damals 1813?

K800_DSC05535-199x300Als das Denkmal 1913 gebaut wurde, ging es den Erbauern um etwas anderes. Es galt, ein Symbol für die Stärke der neuen deutschen Nation zu setzen, ein Denkmal, welches in seiner Größe alle anderen in Europa überragen sollte. Es ist ein Denkmal, das in Form eines Reliefs die „deutschen Tugenden“ – darunter Volkskraft und Opferfreudigkeit – predigt. Ein Denkmal, das laut dessen Weiheschrift pures, „mannhaftes Deutschtum“ und die Macht „des deutschen Gedankens“ zum Ausdruck bringt. Ein Denkmal, das nach dem Willen der Erbauer zu einer Feststätte werden sollte, vor dem die „Gesundheit und Kraft des deutschen Volkskörpers“ präsentiert werden könnte. Ein Denkmal, dessen Symbolik und Bedeutung Hitler dann auch so gut ins Konzept passten, dass sich die Nationalsozialisten hier mehrmals im großen Stil versammelten. Ein Denkmal, vor dem auch heute noch jedes Jahr die NPD gerne Ihre braunen Fahnen schwenken möchte. Letztendlich ein Denkmal also, vor dessen militaristischer, nationalistischer und präfaschistischer Symbolik es mich ekelt. Ich habe hier mit meinem Freund – zumindest im Zuge eines romantischen Ausflugs – ebenso wenig verloren wie die kichernde Junggesellinnenbande, die langsam von dannen zieht. Aber auch allgemein werden hier Millionen für eine schöne Restaurierung ausgegeben, Konzerte gefeiert und Badewannenrennen veranstaltet. Es spricht nichts gegen eine Uminterpretation eines solchen Ortes in etwas Positives, aber dann muss Vergangenes bewusst verarbeitet und nicht ignoriert werden. Mein Freund ist als Italiener unbelastet, mangelnde Erinnerungskultur kann ich ihm kaum vorwerfen. Für mich aber ist es ein Schandfleck den es als solchen anzuerkennen gilt – wenn man sich denn die Erinnerung an dessen Ursprung bewahrt.
Ich drehe mein neues Plüschmonster weiter in meinen Händen herum. Viel zu klobig ist das Gebilde der grauen Ratten, auf ihrem grell-roten Herz mit Schleifchen und Mäuseweste könnten sie hässlicher und kitschiger kaum sein. Theoretisch sollten sie wohl positiv wirken auf den potentiellen Käufer, aber Polyester und Mc-Geiz-Herkunft lassen das kaum zu. Aber zumindest hier, vor diesem wuchtigen, grauen, kitschig-pathetischen Steinhaufen mit Nationalistenherkunft machen sie sich wunderbar. Wer weiß, vielleicht hatten sich die Junggesellinnen ja auch an diese Parallelen gedacht, als sie uns die Kitschratten verkauften. Vielleicht ist es mit der Erinnerungskultur doch besser gestellt als ich es mir gerade so selbstgefällig vorstelle. Vielleicht ekeln sich ja alle Touristen und die bald zu erwartenden Besucher der 200-Jahr-Feier zusammen mit mir wenn sie hierher kommen.

Mich schaudert es noch einmal ein wenig als ich wieder die Treppen des Denkmals  heruntersteige, vor dem Gebilde hinter mir wie auch vor dem in meiner Hand. Nach einem erneuten Umzug bin ich zu Hause vor dem Anblick des Denkmal zwar sicher, aber zumindest das Denkmal in plüschig-klein nehme ich mit mir. Der Erinnerung wegen.

Literatur- und Quellenverzeichnis
Weiheschrift des deutschen Patriotenbundes zur Eröffnung des Völkerschlachtdenkmals
Analyse zum Völkerschlachtdenkmal und seiner Weiheschrift
Interview: das Völkerschlachtdenkmal ist kein Friedensdenkmal

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Autor
Jérôme Thierry

Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013