Dr. Roland Meinel: Statement zur kunstpädagogischen Lehre

Dr. Roland Meinel absolvierte von 1976 – 1980 ein Forschungsstudium Kunsttheorie bei Günther Regel. Von 1980 – 1984 war er wissenschaftlichr Assistent für Umweltgestaltung am Fachbereich Kunsterziehung der Universität Leipzig und von 1988 – 2017 war er wissenschaftlicher/künstlerischer Lehrer am Fachbereich Kunsterziehung bzw. Institut für Kunstpädagogik der Universität Leipzig.

Lehrbereiche

Theorie und Praxis des Produkt-Designs, Papier- und Buchobjekte, Gestaltung digitaler Kataloge und Materialien, Website-Gestaltung, Fotografie und Fotomontage, Medienpädagogische Probleme und außerschulische Praxis, Seminar Öffnung des Bildes, Digitale Bildgestaltung/Video

Der Raum, in dem wir leben, durch den wir aus uns herausgezogen werden, in dem sich die Erosion unse- res Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt, dieser Raum, der uns zernagt und auswäscht, ist selber auch ein heterogener Raum. Anders gesagt: wir leben nicht in einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird. Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definie- ren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.

 

Michel Foucault: Andere Räume, 1967, Seite 38.

Ein Raum für Orientierungen

Künstlerische Lehre bedeutet auch immer: Leere zu verdrängen und Leere zu schaffen – Leere für Neues, Unbelastetes; im Dunklen tasten, vorwärts stolpern, sich neue Räume erschließen, ein Scout sein, der Neuland betritt.
Räume besetzen mit Verantwortung, mit Bedeutsamem und Bedeutung. Räume füllen mit Individualität, Träumen, Emotionen, Wünschen und Hoffnungen. Erwachsen werden und Kind bleiben. Einen Raum für Orientierungen schaffen …!

Crossover

Begriffe wie „Crossover”, „Patchwork”, „Collage”, „Labyrinth” oder „Clip” versuchen das Neue in den Beziehungen der Teile in unserem Raumgefüge zu umschreiben, das „Chaos” hat eine aktuelle Dimension bekommen. Ein „Leben im Plural” (Wolfgang Welsch) – bei dem alles gleich wertig und gleich wichtig ist, die Beziehungen der Dinge untereinander aber bruch- stückhaft und austauschbar sind, ist Realität geworden.

Aus unserem „Raum” ist gleichsam ein „Netz” geworden. Das charakteristische Merkmal ei- nes jeden Netzes ist, dass jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verbunden werden kann, und wo die Verbindungen noch nicht bekannt sind, können sie trotzdem gedacht und entworfen werden – ein „Rhizom”, wie Umberto Eco es bezeichnet. Dieser nicht definierbare, nicht überschaubare Raum unserer Existenz ist gefüllt mit Bruchstücken, Rudimenten, Collagen, Vermischtem – das Fertige, Endgültige, Wahre, Reine ist nicht existent und auch nicht obsolet. „Crossover” ist angesagt, die Vermischung, Durchdringung, Überschneidung der Beziehungen.

Crossover auch in der Kunst und Gestaltung. Die Veränderung des Kunstbegriffs, der Einfluss des Marktes, die Entwicklung der medialen Techniken und die rasante Beschleunigung unseres Lebens haben neue Strategien hervorgebracht.
Crossover auch in der Kunstpädagogik – ein Beruf für Generalisten – man ist Pädagoge, Künstler, Theoretiker, Wissensvermittler, Animator und Menschenfreund – alles ein wenig, keines vertieft. Welches sind die Konstanten, die zwischen den Bereichen fixiert sind? Vielleicht die Gewissheit, im Dunkeln des Rhizoms einen Weg zu finden und Möglichkeiten zu besitzen, diesen Raum auszufüllen, eben weil man nicht im Besitz von allgemeingültiger Wahrheit und unveränderbarem Wissen ist.

Bricolage

Ein Bereich der freien, ungehemmten kreativen Beschäftigung, der zu Unrecht lange diskreditiert wurde, weil er oftmals zweifelhafte und unverstandene Ergebnisse zustande brachte, ist das, was wir als Basteln im positiven Sinne verstehen, die kreative Beschäftigung jenseits aller Normen. Lévi-Strauss bezeichnet dies als „bricolage“. Abseits von zielgebundenem Vorgehen, festen Regeln, ästhetischen Mustern und dem Zwang zur Vollendung und Perfektion reizt den „Bastler“ die Tätigkeit, der Prozess des Gestaltens und Bauens, weniger das fertige Produkt. Subjektive Erfahrungen und persönliche Ziele und Aspekte werden wichtiger als gegebene Normen.

Das, was diese Tätigkeit des Bastelns ausmacht, ist die Kreativität, mit der vorhandene Muster, Wege, Lösungsmöglichkeiten und funktionale Beziehungen verworfen, neue, passendere gesucht und gefunden und bruchstückhaft zu neuen Gefügen gebaut werden. Bricolage als Prinzip künstlerischer und kunstpädagogischer Arbeit ist eine Antwort, sich im Netz der Beziehungen nicht zu verirren, unkonventionelle Wege einzuschlagen und seine eigene Subjektivität nicht zu verleugnen.

Spielraum

Es gilt einen Raum zum Spielen zu schaffen, weil es um das Spiel als solches in Kunst und Kunstpädagogik geht, das Spiel als spezifisches Ereignis, als Ausschnitt aus der Welt, als Spiel nach Regel wie auch nach Zufall, und vor allem auch, weil Spielraum etwas mit Kräften und Beziehungen zu tun hat, mit Bewegungen, Verbindungen und Abgrenzungen. Spiel als „Metapher des Lebens”, wie Kamper das Spiel bezeichnet (KAMPER, 1976, Seite 130), ist immer nur ein begrenzter Ausschnitt des Lebens, aber das im Spiel eroberte Terrain ist der Raum, der sich mit Zeitgeist und globaler Problematik verbindet und eigene Wirklichkeiten schafft, ausgehend von der Individualität und den vorgefundenen Bedingungen – Wirklichkeiten als Folge von Inszenierung und Summe von Realem und Fiktivem. Und so sollte das Studium und die Kunstlehre auch zum „Spielraum“ werden, zum quasi geschützten Bereich um sich erproben zu können und neue Räume zu betreten.

Beziehungen und Differenzen

Kunst ist nicht lehrbar und lernbar und Kunstpädagogik keine „vorweggenommene Kunst“ (Peter Jenny). Kunstpädagogik schafft lediglich Räume und ermöglicht Spielräume, in denen die Verhältnisse von Beziehungen und Differenzen nicht nur in exemplarischen künstlerischen Aufgaben angewandt werden, sondern Methoden und Techniken entwickelt, untersucht und bereitgestellt werden, die für unterschiedliche künstlerische und gestalterische Arbeit genutzt werden können – der eigenen Kunst und der Kunstvermittlung. Dieses Vermitteln, Erkennen und Anwenden von grundlegenden Aufbauprinzipien, Beziehungen und Differenzen garantiert nicht Kunst, ist aber Voraussetzung für Kunstpädagogik.

Mein Raum

Auch ich bewege mich seit Jahren frei und eingeengt in den Räumen, die sich mir erschlos- sen haben und die ich mir erobert habe. Der Spagat zwischen Kunstpraxis und Theorie, zwischen „alten“ und „neuen“ Medien, das Crossover zwischen Kunst, Handwerk und Gestaltung und die Möglichkeiten von Spiel und Bricolage sind allgegenwärtige Bedingungen, die mich eingrenzen und auch erweitern. Noch habe ich die Hoffnung, zwischen den Bruchstücken, im Chaos beim Spiel ein Stück „Ewigkeit“ zu finden (was das auch immer sein wird). Mit meiner Lehre versuche ich, Räume zu öffnen; die jeder dann auf ganz eigene Art füllen muss.

Kamper, Dietmar: Das Spiel als Metapher des Lebens. In: Flitner, Andreas; Kamper, Dietmar; Orff, Gertrud; Portmann, Adolf; Thomas, Claus; Vonessen, Franz; van der Waerden, B.L.: Der Mensch und das Spiel in der verplanten Welt, München 1976.