Schließe

Artefakte moderner Archäologie

Schließe
7x34x25 mm
vergoldetes Metall
Fundort: Leipzig
gefunden am 28.08.2009

Die vergoldete Schließe wurde zwar in Leipzig wiederentdeckt, stammt ursprünglich aber aus Moskau und ist ein Relikt des Couleur der Studentenverbindung Орлёвского отделения РГАУ МСХА им. Тимирязева.

Russische Familienhistorie – Und was haben deine Eltern so gemacht?

Viele Kinder brauchen Einschlafrituale. Mein Bevorzugtes hatte immer etwas mit Musik zu tun. Sei es nun das leicht schiefe Vorsingen meiner Mutter oder das zeitverzögerte Geklimper meiner alten Spieluhr.
Mittlerweile schaffe ich es ganz gut auch ohne diese Rituale einzuschlafen. Aber meine russische Spieluhr existiert noch immer.

Im Sommer 2009 fiel sie mir im Zuge meines Umzugs erneut in die Hände. Sicherlich habe ich sie jeden Tag gesehen, in sie hereingeschaut jedoch seit Jahren nicht mehr. Und so entdeckte ich zwischen DDR-Abzeichen, Puppenschlüsseln und so manch anderem Nippes eine unbekannte vergoldete Schließe. Erst im Gespräch mit meinen Eltern stellte sich heraus, dass diese bereits einen weiten Weg hinter sich hat.

Sie stammt nämlich, wie meine Eltern immer so schön sagen, aus SU-Zeiten. Damals haben sie beide an der Timirjasew-Akademie Moskau (RSAU-TAM; Российский государственный аграрный университет — МСХА им. К. А. Тимирязева) studiert.

Timirjasew-Akademie heute

Heute noch existierend, ist sie die älteste landwirtschaftliche Hochschule Russlands. Doch das interessiert eher weniger. Interessanter ist zu erfahren, was die eigenen Eltern während ihres Studiums so getrieben haben.

Und das wird natürlich nur verraten, wenn man direkt nachfragt. So erfuhr ich das erste Mal, dass meine Eltern zu dieser Zeit in einer Art Studentenverbindung waren, der Студентческий отряд Орлёвского отделения РГАУ МСХА им. Тимирязева. Da denkt man doch sofort an die amerikanischen αβγ-Häuser. Doch etwas anders war es damals schon. Wie in Deutschland gab es eine festgelegte Kombination von Farben. Diese stand für die jeweilige Studentenverbindung, spiegelte sich in allen Kleidungsstücken wider und lässt sich unter dem Begriff Couleur (franz. Farbe) zusammenfassen. Dazu gehörte unter anderem ein Band, welches das Mitgliedsabzeichen der Verbindung war. Das meiner Eltern war blau-grün mit weißer Percussion, existiert allerdings leider nicht mehr. Was jedoch noch vorhanden ist, ist die vergoldete abgenutzte Schließe.

Sie war Teil eines Zipfels, der aus zwei übereinandergelegten unterschiedlich langen Stücken in Metall gefassten Couleurbands und Metallschieber bestand. Dieser Zipfel ist eine Art Schmuckanhänger, der an das Band angebracht werden kann. Er wird beim Zipfeltausch an einen anderen Verbindungsstudenten verschenkt- mal eine andere Art der Freundschaftsbekundung. Und die fand zwischen meinen Eltern statt. Zum Glück, denn sonst würden meine Schwester und ich heute vielleicht nicht existieren.

So kann ein 32mm breites Band und eine Schließe den Grundstein für eine Familie bilden. Und schwupps tippte ich »Studentenverbindungen Leipzig« ein. Schließlich habe ich dieses alte Familienstück nicht nur in Leipzig gefunden, sondern ich studiere auch hier. Nur von typischen Studentenverbindungen, die eventuell noch aus dem 19. Jahrhundert stammen, hatte ich bisher noch nie etwas gewusst. Denn die zeitgenössische Studentenverbindung lautete bisher eher StudiVZ. Aber nun spucket mir die Suchmaschine dutzende Verbindungen aus, die alle ihre eigenen Farben und Leitsprüche haben. Vielleicht sollte man überlegen Verbindungen wie Corps Saxonia mal anzuschauen. Eine geschichtsträchtige Schließe hatte ich ja schon.
Doch dann beantwortete ich doch ersteinmal meine StudiVZ-Nachrichten. Später im Bett stellte ich mir die Schließe an meiner Tragetasche vor. Im Hintergrund hörte ich noch langsam Tschaikowskis Schwanensee klimpern. Dann bin ich eingeschlafen.

Quellen

Links

Corps Saxonia Leipzig

Timirjasew Verein

Studentenverbindung der Timirjasew Akademie

Literatur

Abel-Musgrave, Curt: Memoiren eines Couleur-Studenten. Freiburg: Fehsenfeld, 1891.

Dolch, Oskar: Geschichte des deutschen Studententhums von der Gründung der deutschen Universitäten bis zu den deutschen Freiheitskriegen. Leipzig: Brockhaus, 1858.

Knowles, Lees: Ein Tag mit Corps-Studenten in Deutschland. Heidelberg: Groos, 1908.

Download Objektbeschreibung

Autor
Haase, Julia

Fotos
Haase, Julia