Peitschenkreisel

Artefakte moderner Archäologie

Peitschenkreisel
36 x 61 x 37 mm
Holz, Metall
blau, rot, weiß, gelb und orange bemalt
Fundort: Saubach (Gemeinde Finneland, BLK)
gefunden am 17.04.2011

Der Peitschenkreisel wurde in der Schublade einer alten Garderobe auf dem Dachboden einer leer stehenden Scheune von Hand gefunden. Er weist zahlreiche Gebrauchsspuren auf. Die Farbe ist an manchen Stellen großflächig abgesplittert.

Erinnerungen an alte Zeiten. Oder: Wie ich zu dem Kreisel kam.

Ein warmer Wind weht mir um die Ohren. Der Kopf ist frei, zunächst. Ich lasse dem Alltagsstress keine Chance, ganz langsam radle ich die unebene Straße hinauf. Gleich habe ich den Ortsausgang erreicht. Die Dorfstraße ist von Bäumen umsäumt, linker- und rechterhand türmen sich weite Felder auf. Ein wohliges Gefühl macht sich in mir breit, ich betrachte das angenehme Grün der Landschaft, den hellblau leuchtenden Himmel. Zu schön, um nur daran vorbeizuradeln, steige ich vom Rad ab. Ein Baum, mein Kletterbaum. Die Erinnerung an alte Zeiten lässt mich schmunzeln. Bis ins höchste Geäst, immer weiter nach oben, keine Angst. Wenn man ihn sich heute betrachtet, wird einem himmelangst: ein falscher Tritt, ein morscher Ast und… man will gar nicht darüber nachdenken. Als Kinder sind wir hier oft herumgetobt, haben uns in Baumhäusern oder in den Feldern versteckt, sind in Scheunen herumgestromert.

Da kommt sie mir wieder in den Sinn: die alte Scheune. Unweit von hier, etwas abseits von Saubach steht sie, lediglich drei Gehminuten entfernt. Zwar fahre ich die Straße an der Scheune gelegentlich mit dem Auto entlang, bringe dem alten Lehmbau dabei jedoch kaum Aufmerksamkeit entgegen. Da mich an diesem Vormittag nichts drängt, steige ich wieder aufs Rad. Ich atme tief ein, inhaliere die frische Landluft, gelange schließlich an die besagte Straße und überquere sie. Kein Auto in Sicht. Drei Pferde, die in den Gärten gegenüber seelenruhig grasen, fühlen sich durch mein Erscheinen zunächst gestört, widmen sich jedoch bald wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung. Mein Rad lege ich im kniehohen Gras nieder. Vor dem großen Scheunentor stehend, kommt es mir heute nicht mehr so monströs vor. Mit etwas Anstrengung schiebe ich es einen Spalt auf. Viel hat sich nicht geändert, in den letzten zehn… nein, fünfzehn Jahren. Während ich mich im Kopf damit beschäftige, wie in aller Welt die Zeit so schnell vergangen sein konnte, bewegt sich mein Körper durch die Scheune und steuert die Leiter an, die zur nächsten Etage führt. Ich nehme die Bilder unmerklich in meinem Gedächtnis auf: alte Erntegeräte, Stapel von Holzbrettern, Ziegelsteine, Stroh über Stroh und selbstverständlich Staub. Da sich die erste Etage nicht sonderlich von der bereits gesehenen unterscheidet, klettere ich die nächste Leiter hinauf und betrete einen kleinen Raum. Herunterhängende Spinnweben veranlassen mich dazu, die Kapuze meines Anoraks aufzusetzen. Merkwürdigerweise nehme ich erst jetzt den muffigen Geruch der alten Scheune wahr. Es ist eine Mischung aus Lehmwänden, alten Textilien und Staub.

Mir gegenüber erscheint unter all dem Chaos ein altes Fahrrad, auf Lenker und Sattel stehend. Ob es noch funktioniert? Obwohl es mich ehrlich gesagt etwas reizt, mich auf das verstaubte Fahrrad zu setzen, um dessen Funktionsfähigkeit zu überprüfen, werde ich von einem Möbelstück abgelenkt. Eine alte Garderobe aus dunklem Holz…

Die an den Haken hängenden Mäntel, Jacken und Kinderroben sind von Dreck und Staub übersät. Im Spiegel betrachte ich mich kritisch. Von Neugier getrieben, fasse ich in die Taschen der Mäntel. Alte Streichholzschachteln aus dem VEB Zündholzwerken Coswig kommen zum Vorschein, sowie einzelne Blätter von Zeitungsartikeln und eine Kleiderbürste. Unterhalb des Spiegels steht eine Schublade offen, in welche zahllose Stoffreste, anscheinend Stofftaschentücher, hineingestopft wurden. Eher lustlos wühle ich in dem Durcheinander, als meine Finger plötzlich neben dem weichen Stoff einen harten, eingekerbten Gegenstand erfühlen. Es ist ein Holzkreisel, farbig bemalt, mit einer Metallspitze versehen. Die von mir ertasteten Einkerbungen stellen Rillen dar. Bereits 2000 v. Chr. wurden solche Kreisel in Ägypten und 1250 v. Chr. in China entdeckt. Im 14.Jahrhundert brachten Seeleute sie nach Europa, wo sie erst im 18./19. Jahrhundert an Popularität gewannen. Um den Kreisel in Schwung zu bringen, bedarf es einer an einem Holzstab befestigten Schnur, die traditionell aus Aalhaut bestand. Legt sich die Schnur durch kontinuierliches Peitschen in die Einkerbungen des Kreisels, treibt sie diesen zum Drehen an. Deshalb nennt man dieses Kinderspielzeug auch Peitschenkreisel. Es bedarf jedoch einiger Übung, bis man den „Dreh“ heraushat. Ein Geduldsspiel also, oder? Fragt sich nur, wem dieser Kreisel gehören mag. Ich betrachte mir den Kreisel von allen Seiten. Die Farbe ist teilweise abgesplittert, er wurde sicher oft zum Spielen genutzt. Aber hier in der Scheune? Der unebene Bretterboden eignet sich zum Drehen eines Kreisels nicht sonderlich gut. Was sucht er hier zwischen den weichen Stofftüchern? Nach einigen Überlegungen komme ich zu dem Schluss, dass ihn hier jemand bewusst versteckt haben muss. Eigentlich ein schlaues Versteck; in einer abgelegenen Dorfscheune, auf dem Dachboden, in einer alten Garderobe, eingebettet in Stofftaschentücher. Niemand würde hier nach irgendetwas suchen. Birgt dieses Spielzeug für jemanden aus dem Dorf vielleicht eine besondere Bedeutung? Schöne Kindheitserinnerungen, die meinen Erinnerungen an Kletterbäume, Felder und Scheunen gleichen?

Mir wird augenblicklich klar, dass ich dieser Geschichte auf den Grund gehen muss. Auf jeden Fall handelt es sich um einen DDR Kinderspielzeugkreisel aus Holz. Ich schätze, dass er in den 50er oder 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Anwendung fand. Da meine Mama in Saubach aufgewachsen ist und die meisten Einwohner von Kind auf kennt, hat sie vielleicht eine Ahnung, wer mit Kreiseln solcher Art einst gespielt haben könnte oder sogar, wem der Kreisel einst gehört hat.

Im Schnellschritt, jedoch vorsichtig, verlasse ich über die Leitern die Scheune, schließe das große Tor. Erst jetzt, beim Klang des Vogelgezwitschers, dem gelegentlichen Wiehern der Pferde und Motorgeräuschen aus der Ferne fällt mir auf, dass es in der Scheune totenstill gewesen sein muss. Die Wärme der Sonnenstrahlen berührt mein Gesicht, ich setze die Kapuze wieder ab und steige auf mein Fahrrad. Trotz der kleinen vorfreudigen Aufregung, eine Geschichte aus vergangener Zeit aufdecken zu wollen, verharrt in mir das mulmige Gefühl, soeben einen Menschen bestohlen zu haben. Einen Menschen, der in voraussehbarer Zeit oder in den nächsten Jahren in diese Scheune gehen, nach dem Kreisel suchen und nichts als Stofftaschentücher vorfinden wird.

Quellen
Scharmann, Jan-Hendrik: Der Peitschenkreisel. Einen Klassiker neu entdecken. In: http://www.peitschenkreisel.de/index.html
Stand: 06.05.2011

Oliver, Valerie: History of the Top. In: http://www.spintastics.com/SSTDocuments/TopHistory%20pdf.pdf
Stand: 11.05.2011

Links
http://puppenhausmuseum.de

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Autor
Brix, Stefanie

Fotos
Brix, Stefanie