Objektsucherokular

Artefakte moderner Archäologie

Objektsucherokular eines alten Fotoapparates
42 x 26 x 39 mm
Glas, Metall
Fundort: Döbeln
gefunden am 24. Juni 2008

Das Objektsucherokular wurde in Döbeln in der Nähe des Klosters im Sperrmüll gefunden. Ich entdeckte es in der Schublade einer Kommode. Das Okular ist ausklappbar und gehört zu einer alten Fotokamera. Die Metallfassung ist leicht angerostet.

Objektsucherokular einer alten Fotokamera, gefunden auf einem historischen Pfad

Im Juni 2008 richtete ich mir mein erstes Atelier in Döbeln ein. In der Innenstadt war Zeit der Sperrmüllentsorgung. Die Straßen säumten zahlreiche alte Möbel und einiges Gerümpel. Auf der Suche nach kostenlosen Ateliermöbeln interessierten mich auch die verschiedenen Sperrmüllhaufen der benachbarten Staupitzstraße. An der Ecke zur Töpfergasse stieß ich auf eine sehr brauchbare Kommode. Da sie nicht vollständig ausgeleert war, durchstöberte ich sogleich deren Inhalt. Einige alte Postkarten erweckten meine Aufmerksamkeit. Dazwischen kam ein kleiner, lupenartiger Gegenstand zum Vorschein, der mir matt glänzend entgegenschimmerte. Die vermeintliche Lupe war dabei nur ein Teil des dreigeteilten klappbaren Gegenstandes, den ich auf den zweiten Blick nun eher einem alten Mikroskop zuordnete. Meine Neugier war geweckt und so wollte ich herausfinden, wozu mein Fundstück ursprünglich diente.

Zu Hause wusste dann mein Mann (er ist ein belesener Hobbyfotograf) sofort, dass es sich bei meiner „Lupe“ eigentlich um den Sucher eines alten Fotoapparates handelte. In einem Fotogeschäft sagte man uns, es sei ein Objektsucherokular. Dieses könnte sowohl zu einer alten Balgen- als auch zu einer Plattenkamera gehören. Sehr viele Hersteller bauten früher solche Sucher an ihre Kameras. Man nannte uns mehr als ein Dutzend Kamera-Typen bzw. Hersteller, u. a. AQFA, Welta, Zeiss Ikon, Belta, Balda, Cotessa Nettel, Ernemann, Goerz, Voigtländer, Kodak… Nach langer Suche im Internet fand ich endlich drei Plattenkameras, mit Objektsucherokularen, die mit meinem Fundstück überein stimmten.  Aber alle drei trugen keinen der oben genannten Herstellernamen. Jedoch befand sich auf jeder dieser Kameras ein Schild mit der Aufschrift „Compur“. Dank dieses Hinweises fand ich Folgendes heraus:

„Cumpur“ ist der Name einer bahnbrechenden Erfindung der Firma Friedrich Deckel AG in der Fotokamera-Industrie. Diese AG ging 1905 als „Friedrich Deckel GmbH“ aus der Firma „Bruhns & Deckel“ (gegründet 1903) hervor. Christian Bruhns entwickelte bereits 1904 den sogenannten Compound- Zentralverschluss für Kameras, der erstmals eine zeitkontrollierte Objektivöffnung in Fotokameras ermöglichte. Weiterentwicklungen durch Bruhns führten 1911 zur Patentierung des „Compur“-Verschlusses, der fortan die Entwicklung der Fotoindustrie entscheidend bestimmte. Die Friedrich Deckel GmbH beschäftigte sich weiterhin jedoch mehr mit der Entwicklung und Herstellung mechanischer Geräte bzw. Teile und weniger mit der Produktion ganzer Kameras. Es kam aber ab 1911 zur Zusammenarbeit mit der Optisch-Mechanischen Fabrik München (OMFA), die den Compur-Verschluss in mehrere Kamera-Typen einbaute (u. a. Zeiss und AQFA). Die Wirren des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik und der Inflation in Deutschland ließen die Kamera-Industrie etwas in die Nebensächlichkeit driften. Doch ab 1928  begann beispielsweise AQFA mit der Massenherstellung verschiedener Fotokamera-Baureihen, die fast alle den Compur-Verschluss verwendeten.

Einem der drei im Internet gefundenen Kamera-Abbildungen konnte ich die Serienummern von Objektiv und Compur-Verschluss entnehmen. Daraus ist zu schließen, dass diese Kamera zwischen 1910 und 1920 hergestellt wurde. Aus dieser Zeit könnte also auch mein Fundstück, das Objektsucherokular, stammen. Es ist wahrscheinlich schon neunzig Jahre alt oder sogar noch älter und blickt ganz sicher auf eine interessante Geschichte zurück.

Interessant ist auch der Fundort dieses alten Stückes in meiner Heimatstadt Döbeln. Döbeln selbst liegt mitten in Sachsen. Es wurde 981 erstmals urkundlich erwähnt. Wie schon berichtet, fand ich das Sucherokular mitten im Sperrmüll an der Ecke Staupitzstraße / Töpfergasse. Ziemlich genau an diesem Ort kreuzten sich früher zwei uralte Handelswege. Die Staupitzstraße liegt am nördlichen Ufer der Freiberger Mulde und damit nur wenige Meter neben der früheren Salzstraße Halle – Elbfurt Meißen, die am südlichen Muldenufer verlief und bereits um 950 nachweislich durch Döbeln führte. Die heutige Töpfergasse befindet sich direkt auf einem Teil der schon um 800 n. Chr. bestehenden Handelsverbindung Prag – Strehla (Elbfurt).

Im Osten mündet  die Staupitzstraße in die Klosterstraße. Dort befindet sich heute noch das alte Abteigebäude des 1330 gegründeten Nonnenklosters. Es beherbergte zwischen 1330 und 1539 ständig etwa 16 Nonnen.

Im Hintergrund die alte Abtei des Döbelner Klosters direkt an der Freiberger Mulde

Im Hintergrund die alte Abtei des Döbelner Klosters direkt an der Freiberger Mulde

Diese Aufnahme (alte Postkarte) könnte mit einer Plattenkamera entstanden sein, die mit einem Compur-Verschluss ausgestattet war.

Ehemalige Abtei des Nonnenkloster mit einem Teil der Staupitzstraße und heutigem Innenhof

Einem Stadtbrand von 1523 ist es zu schulden, dass fast alle Klostergebäude, einschließlich Kirche, Kreuzgang und die Klostervorstadt vernichtet wurden. Nachdem sich 1539 auf Döbeln auch die Reformation auswirkte, wurde das Kloster weiterhin nur noch von einer Nonne bewirtschaftet. Im Jahr 1554 lösten die Stadtväter das Kloster auf und verkauften seine Güter an wohlhabende Bürger Döbelns. Damit dienten die Überreste des Klosters hauptsächlich als Baumaterial zum Aufbau neuer Häuser.

Mit dem Niedergang des Klosters gewann die 1475-81 aus Sandstein gebaute, spätgotische Stadtkirche St. Nicolai an Bedeutung. Sie befindet sich nur fünf Fußweg-Minuten vom Kloster entfernt am Lutherplatz. Es ist eine dreischiffige Hallenkirche mit jeweils vier Jochen. Ihr heutiger Kirchturm stammt aus dem Jahr 1730 und ist 63 Meter hoch. Vier unterschiedlich große, 1921 geweihte Glocken läuten heute in seinem Glockenstuhl.

Als sehr gut erhaltenen und aufwändig restaurierten mittelalterlichen Kunstschatz beherbergt St. Nicolai heute noch einen wunderschönen, zwölf Meter hohen, geschnitzten Flügelaltar aus den Jahren 1515/20. Der Altar mit seinem 3-etagigen Gesprenge ist ein Beispiel sächsischer Tafelmalerei und Schnitzkunst aus der sogenannten Freiberger Werkstatt. Der unbekannte Schöpfer der Tafelmalerei wird der Cranach-Schule zugeordnet.

Eine reich verzierte Kanzel aus dem Jahr 1599 ergänzt die Pracht in der sonst schlichten Kirche. Weiterhin beherbergt der Innenraum zwei sehr schöne Taufsteine von 1603 bzw. 1896 und den lebensgroßen, beweglichen sogenannten Mirakelmann von 1510. Dieser Mirakelmann wurde im ausgehenden Mittelalter für sehr realistische Passionsspiele benutzt.

Mit der neugotischen Renovierung 1885 erhielt der Chorraum von St. Nicolai Glasgemälde-Fenster, hergestellt in der Zittauer Firma Tücke. Diese zeigen großfigurig die vier Evangelisten und wirken ergänzend zum Flügelaltar.

Als Spezial-Angebot können Besucher von Juni bis August jeden Mittwoch 17.30  Uhr die aus dem Jahr 1924 stammende Eule-Orgel mit ihren 3912 Pfeifen als Hörgenuss 30 Minuten lang in dieser schönen Kirche erleben.

Alte kolorierte Postkarte mit der Kirche St. Nicolai

Diese Aufnahme könnte ebenfalls mit einer Kamera entstanden sein, die mit einem Compur-Verschluss ausgestattet war. Sie stammt von der Firma Ottmar Zieher, München. Ottmar Ziehers Firma existierte von 1880 bis 1952 und beschäftigte mehrere Grafiker und Künstler zur Herstellung verschiedenster Ansichten aber auch zum Kolorieren von Fotos. Die Briefmarke auf der Kartenrückseite wurde 1924 in Döbeln abgestempelt.

Zum Abschluss des kleinen Ausfluges um den Fundort meines Artefaktes, soll noch ein Zusammenhang zwischen Nicolaikirche und der Staupitzstaße hergestellt werden. Die Straße nämlich, verdankt ihren Namen dem bis 1415 in Döbeln ansässigen Rittergeschlecht derer von Staupitz.

In einer Sage heißt es, dass Ritter Dietrich von Staupitz 1415 die benachbarte, neu erbaute Burg Kriebstein im Handstreich eroberte. Deren wahrer Besitzer Dietrich von Beerwalde holte sich Friedrich den Streitbaren zur Hilfe und belagerte Kriebstein bis Staupitz schließlich ausgehungert aufgab. Doch die kluge Frau von Staupitz verhandelte kühlen Kopfes über die Abzugsbedingungen. Dabei gelang es ihr, all das mitnehmen zu dürfen, was sie selbst tragen konnte. Als sie ging, schleppte sie unbehelligt vor den verblüfften Augen der Sieger, ihren Mann davon… Das Staupitzsche Geschlecht wurde seitdem nicht mehr in Döbeln gesehen.

Geschichtlich belegt wiederum, wurde einer seiner Nachfahren 1460 in Motterwitz bei Grimma geboren. Es war der spätere Mönch und katholische Theologe Johann von Staupitz. Dieser Staupitz wurde ein Förderer von Martin Luther, sein Seelsorger und Beichtvater. Außerdem unterstützte er den großen Reformator im Augsburger Verhör. Mit den Wirren der Reformation verschlug es ihn nach Salzburg, wo er 1420 in den Benediktinerorden eintrat und 1424 hoch geachtet starb. Durch ihn und über ihn wurden zahlreiche wissenschaftliche Werke verfasst. Noch heute bewahrt man sein Grabmal in der Marienkapelle des Benediktinerordens zu Salzburg.

Vor der Döbelner Nicolaikirche steht ein Lutherdenkmal. Es steht deshalb dort, weil (nicht nachgewiesen) Luther selbst 1545 hier seinen früheren Famulus Magister Braun als Pfarrer einführte. Und über Johann von Staupitz erhält dieses Denkmal noch einen direkteren Bezug zu Döbeln, meine ich.

Es ist schon erstaunlich, was ich durch mein Fundstück alles heraus gefunden oder wieder hervor gekramt habe.

Quellen

Links:

Wikipedia, Artikel Plattenkamera

Beispiel Kamera: Compur- Doppel-Anastigmat-Correctar-OMFA

Wikipedia, Artikel über Compur-Verschluss

Wikipedia, Artikel über Friedrich Deckel (Compur-Verschluss)

Wikipedia, Artikel über AQFA

Bedeutung Name OMFA

Herstellungsjahre von Seriennummern von Objektiv und Compurverschluss

Wikipedia, Artikel zur Geschichte Döbelns

youtube, Video zur Nicolaikirche

Wikipedia, Artikel über Ottmar Zieher

Literatur:

Hingst, Carl Wilhelm, Chronik von Döbeln und Umgebung, Döbeln, 1872, Nachdruck Beucha, 1999

Rat der Stadt Döbeln, Döbelner Panorama 1989, Döbeln, 1989

Bechter, Barbara, St. Nicolaikirche Döbeln, Kienberg, 2002

Download Objektbeschreibung

Autor

Ulrike Krause

Fotos

Ulrike Krause

„Döbeln am Wasser“: Kunstanstalt Stengel & Co. GmbH Dresden (1884-1944)

„Döbeln“: Heloikolorierte Karte von Ottmar Zieher, München