Spielkarte

Neustädter Fundstücke

Spielkarte

91 x 59 x 0,2 mm
Pappe/ Harzfolie
Fundort: Leipzig, Eisenbahnstraße 63
gefunden am: 17.04.2012

Spielkarten stehen für Geselligkeit, Unterhaltung und auch Müßiggang. Doch gerade in der Leipziger Neustadt sind sie ebenso Zeichen kultureller Identität für manchen Fremden. Da bleibt die Gefahr des Glücksspiel nicht fern…

Das Spiel um das neue Glück in Deutschland 

Zunächst mag der Fund einer alten Spielkarte auf dem Bürgersteig einer der geschäftigsten Straßen Leipzigs, der Eisenbahnstraße, verwundern, doch schaut man sich den Fundort genauer an, stellt man fest wie repräsentativ diese eine Karte für den Stadtteil in Wahrheit ist. An ihrem Platz zwischen Spielcenter und türkischem Frühstückshaus überrascht die Karte kaum mehr. Ganz im Gegenteil scheint sie dort in ihrer „natürlichen Umgebung“, in alltäglichem Gebrauch zu sein.

Am Fundort: Zwischen Spielcenter und Frühstückshaus

Was man hier als Frühstückshaus findet, ist allgemein auch als türkisches Kaffee- oder Teehaus bekannt. Im Zuge der Einwanderungen aus der Türkei in die BRD entstanden in den 80er Jahren viele Teehäuser nach dem Vorbild der „Kahvehane“, den typischen Dorf- oder Stadtteilcafés. Diese fanden in den 90er Jahren auch Einzug in die Neuen Bundesländer, vor allem in Sachsen.

Namensgebend für diese Lokalitäten ist ganz klar das am meisten konsumierte Getränk: der Tee. Aber in Wirklichkeit ist der „Cay“, den man für einen Euro erwerben kann, nicht der Grund, weswegen Mann das Teehaus aufsucht. Vielmehr geht es um den Ort als solchen: Er ist sozialer Treffpunkt, kulturelle Heimat und damit Identitätsstiftung für die mittlerweile zweite oder dritte Generation türkischer Einwanderen, an dem sie besondere Solidarität und gegenseitige Hilfe finden.

Laut dem Sozialwissenschaftler Raul Ceylan ist ein arbeitsloser Teestubengast, der nichts konsumiert, genauso gern gesehen wie ein zahlender Kunde, denn für ihn liegt im Teehaus- Besuch die Möglichkeit familiären Stress abzubauen, sozialem Druck zu entfliehen und damit eine angenehme Abwechslung zum Alltag zu finden.

Der karge Einrichtungsstil der Teehäuser hat Wiedererkennungswert: Gefliester Boden, schmale Theke und viele kleine Tische mit Stühlen, alle zentral im Raum. Auch moderne Technik in Form von groflformatigen Fernsehbildschirmen hat Einzug gehalten, doch die Bindung zum Kartenspiel bleibt weiterhin bestehen.

Denn am Abend zeigt sich vielerrorts das andere Gesicht der Teehäuser: Hinter verschlossenen Fensterläden wird im Rauchnebel bis in die frühen Morgenstunden illegal gezockt. Die Integrationsbeauftragte Cemil Sahinöz kennt das Leid vieler türkischer Frauen, die in ihrer Familienberatungsstelle über die Abwesenheit ihrer Männer klagen. Laut Sahinöz geben über ein Viertel der Frauen, die eine Scheidung wünschen, an, dass ihre Männer täglich in Teehäusern sind und hohe Spielschulden haben.

Auch einige Eltern haben Grund zur Sorge: Verstärkt fallen nun Jugendliche  der Spielsucht zum Opfer. Die Gefahr wird oftmals nicht ernst genommen oder unterschätzt, da viele Jugendliche durch die Spielaktivitäten des Vaters sozialisiert wurden, so Sahinöz. Zwar trifft sich die Jugend akuell nicht mehr in Teehäusern, dafür aber immer mehr im Internet bei Oddset und Poker.

Vielleicht sollte man die Glückssuche auflerhalb der Teehäuser beginnen…

Quellen
Sahinöz, Cemil (16.08.2011): Als türkische Cafés getarnte illegale Glücksspielorte, Deutsch-Türkische Nachrichten.
Seibold, Michael (22.02.2005): Türken in Frankfurt: Geschlossene Gesellschaft bei Tee und Kartenspiel, FAZ. 

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Autor
Frederike Kuhn