Kreidestück

Fundstücke Leipziger Neustadt

Kreidestück

30 x 23 x 24 mm
Kreide
Fundort: Spielplatz am Neustädter Markt, Leipzig
gefunden am 9. Mai 2012

Das Kreidestück ist blau und man kann beim näheren Betrachten Rückstände roter Kreide sehen.
Kreide ist ein Symbol für die Kindheit, insbesondere für die spielerische Auseinandersetzung des Kindes mit seinen Wünschen,Träumen und der erlebten Lebenswirklichkeit.

Ein Stückchen Kreide – ein Stückchen Kindheit

Straßenbahnen, Stimmengewirr, Dönerläden, der bunte Bau des Kinder- und Jugendtreffs „Rabet“, marode Häuser, …
Dieses Treiben begleitet mich, wenn ich mit meinem Rad über die Eisenbahnstraße fahre. Doch sobald man abbiegt, ist es plötzlich ganz ruhig.

Bei meinem Spaziergang durch die Leipziger Neustadt begegnen mir vor allem Kinder. Die Uhr der Heilig-Kreuz Kirche schlägt 18 Uhr. Zwei Mädchen rennen rasch nach Hause, an einer Haustür der Hedwigstraße steht ein Junge und klingelt, noch vom schnellen Rennen etwas keuchend. Hin und wieder begegnen mir Frauen mit Kopftüchern, die sich aufgeregt auf Türkisch unterhalten. Ich laufe weiter und überquere dabei den kleinen Park vor der Kirche. Zwei Frauen auf einer Parkbank unterhalten sich und werden auf mich aufmerksam, wie ich gedankenverloren an ihnen vorbeigehe.

„Hey, suchst Du etwas? Können wir Dir helfen?“, rufst es plötzlich hinter mir her.
Ich drehe mich um und antworte „Nein, eigentlich nicht. Naja, doch. Ein Fundstück.“
„Sowas wie einen verlorenen Ohrring?“, fragt mich eine der Frauen mit kurzen schwarzen Haaren.
„Wenn den jemand verloren hätte, dann ja.“
„Hier liegt keiner. Warum brauchst Du so etwas?“
„Für ein Kunstprojekt, das da drüben im Haus stattfinden wird.“
„Ach, das ist eine ganz andere Welt.“, die beiden Frauen wünschen mir noch viel Erfolg bei meiner Suche und so endet unser kurzes Gespräch.

„Das ist eine ganz andere Welt“ hallt es in meinem Kopf nach und meine Gedanken kreisen sich um diese Worte. Mein Gedankenkarussell wird durch den zarten Gesang eines Kindes und seiner Mutter unterbrochen. Es tönt der Kanon „Bruder Jakob“ in einer für mich unbekannten Sprache über den Spielplatz nahe der Kirche. Mutter und Kind schaukeln während sie den eingängigen Kanon vor sich hin singen. Auf einer Bank, die mit Kreidezeichnungen geschmückt wurde, liegen noch ein paar Stückchen Kreide. Ich beobachte dieses liebevolle Szenario ein paar Minuten bis ich weitergehe.
Meine Füße führen mich weiter entlang der maroden Hausfassaden der Schulze-Delitzsch Straße der gesamte Straßenzug macht einen verlassenen, menschenleeren Eindruck auf mich, nur die überfüllten Mülltonnen vor den Häusern und die parkenden Autos verweisen auf die hier lebenden Menschen. Nein, kein Fundstück, nichts, was auf das Leben in der Neustadt hindeuten könnte. Wer lebt hier? Fühlen sich die Menschen wohl? Was passiert hinter den verschlossenen Türen? Die Gedanken in meinem Kopf nehmen weiter ihren Lauf und so versunken wie ich bin, lande ich plötzlich wieder auf demselben Spielplatz, wo ich zuvor noch Mutter und Kinder beim Singen beobachtet habe. Diesmal ist er menschenleer, doch die kleinen Kreidestückchen liegen noch auf der bemalten Bank. Das Kind hat seine Spuren hinterlassen, sich diese Fläche angeeignet und seinen Spielplatz markiert. Mit einem kleinen Stückchen blaue Kreide in der Hand überquere ich wieder die unbefahrene Straße, alles ist still, das Grün der Büsche vor der Kirche leuchtet satt, ich möchte wieder zu meinem Fahrrad. Auf der Parkbank vor der Kirche sitzen immer noch die beiden Frauen. Als sie mich sehen, sprechen sie mich an und fragen, ob ich gefunden hätte, was ich gesucht habe.

Ich erzähle ihnen von meinem Fund und was ich damit vorhabe. Die beiden hören mir aufmerksam zu, doch merke ich, dass meine Worte sie gar nicht erreichen, da sie mit ihren Gedanken ganz woanders sind. Plötzlich platzt es aus der Frau mit den kurzen, schwarzen Haaren heraus: „Du hattest bestimmt eine gute Kindheit? Deine Eltern hatten gute Berufe und haben sich für Dich interessiert.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, sprudelt es aus der anderen Frau heraus. Eine Diskussion, die doch keine wirkliche Auseinandersetzung sein kann, da beide viel zu sehr mit ihren eigenen Erlebten beschäftigt sind, beginnt. Ich sitze da, zwischen den beiden Frauen auf der Parkbank, als leise Beobachterin, als Zuhörerin. Lausche ihren Geschichten über die Schulzeit, der Jugend, der Zeit danach.

Das Gespräch nimmt seinen weiteren Lauf, die Beiden erzählen mir, dass sie sich gar nicht oft sehen würde, so einmal im Jahr treffen sie sich und verbringen dann mehrere Tage miteinander in Parks und auf Partys. Irgendwann gehe sie wieder auseinander bis sich ihre Wege wieder kreuzen.
Wir Drei verstummen auf der Parkbank und gehen unseren Gedanken und Erinnerungen nach.
Dann verabschiede ich mich, wünschen den Beiden alles Gute und gehe.

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Autor:
Anna Walter

Fundstücke Leipziger Neustadt