Nutzungsvertrag

Fundstücke Leipziger Neustadt

210 x 210 cm
Papier
Fundort: Neustädter Straße 30, Leipzig
gefunden am 27. April 2012

Ein auf Schreibmaschine getippter Nutzungsvertrag, datiert auf den 26.08.1988.
Gefunden ihn in Mitten alter Dokumente und Zeitungsausschnitte in einem leer stehenden Neustädter Haus, demselben Haus, auf das er sich bezieht, dem Haus, in dem sein Besitzer einmal ein Leben verbrachte.

Herr E. R. kann per  1.9.1988 das [sic] ehemalige Mietbereich Heinze, Neustädter Straße 30, 4. Etage, als Unterstellmöglichkeit nutzen.
Der Nutzungsvertrag ist durch den Rechtsträger jederzeit und ersatzlos kündbar.
Der Abschluss des Nutzungsvertrages erfolgt in Abstimmung mit der Abt. Wohnungspolitik beim Rat des Stadtbezirkes Mitte, Kollegin Fischer.
Die monatliche Nutzungsgebühr beträgt 15,00 Mark und ist bis zum 3. Werktag des laufenden Monats auf das Konto 5602-19-611[ …] einzuzahlen.

Nach abgeschlossener Lehre zum Koch entschied sich Herr R. die Vorstadt zu verlassen und nach Leipzig umzusiedeln. Er beantragte eine Wohnung in der Stadt, die er nur von einigen Messebesuchen her kannte. Er wusste, dass er lange würde warten müssen. Unverheiratet und kinderlos hatte er zu Zeiten des massiven Wohnungsmangels keine guten Karten und so wartete er ein Jahr später immer noch. Um seine neue Stelle im VEB Ratskeller antreten zu können, um zumindest das Elternhaus endlich hinter sich zu lassen, kam er bei seinem Bruder und dessen Familie unter. Die Wohnung war viel zu klein und eine dauerhafte Lösung scheinbar nicht in Sicht. Bis er von einem Haus in der Neustadt erfuhr.
Es gab dort noch eine Menge Platz, viele Wohnungen standen leer. Da es in einem furchtbar heruntergekommenen Zustand war, konnte der Besitzer es offiziell nicht als Wohnraum vermieten. Dafür gab es die Möglichkeit, für einen geringen Betrag „Nutzungsverträge“ abzuschließen. R.s erste eigene Wohnung: groß, äußerst günstig und ziemlich marode.
Dieses Haus steht exemplarisch für das Dilemma der Altbauten zu Zeiten der DDR: Die Mieten waren so niedrig, dass sie für die Instandhaltung der Häuser nicht ausreichten, die Stadt konzentrierte ihre Investitionen vor allem auf das Zentrum, um ein gutes Erscheinungsbild für Messebesucher und andere Gäste zu bieten. Die Häuser in Neustadt-Neuschönefeld und Umgebung wurden jahrzehntelang vernachlässigt, bis sie nach und nach verfielen. Anstatt zu sanieren, stellte die Stadt weitreichende Pläne zum Abriss an. Auf den Grundstücken sollten Plattenbauten errichtet werden, die kostengünstig und schnell gebaut werden konnten, mehr Wohnraum boten und den Wohnkomfort steigern sollten. Vor allem in Neuschönefeld und Volkmarsdorf südlich der damaligen Ernst-Thälmann-Straße (heutige Eisenbahnstraße) mussten in den 70er und 80er Jahren bereits viele Häuser dem Plattenbau und der Erweiterung des Stadtteilparks Rabet weichen. Die Melchoir-, Martha-, Reinhard-, Rosen- und Otto-Runki-Straße, die im heutigen Gebiet des Parks lagen, sind so vom Stadtplan verschwunden.  Auch für das Gebiet rund um den Neustädter Markt gab es umfangreiche Rückbaupläne. Diesem Flächenabriss kam jedoch glücklicher Weise die Wende dazwischen. Zu Beginn der 90er Jahre wurden Sanierungspläne erstellt, die die Instandsetzung der Altbauten, die Begrünung des Stadtteils sowie die Erneuerung des Stadteilparks Rabet vorsahen. Besonders die Sanierungs- und Modernisierungstätigkeiten privater Investoren haben zu einem großen Sanierungsfortschritt beigetragen, sodass heute ein Großteil der Neustädter Häuser saniert sind oder werden.
Nicht alle haben es jedoch geschafft. So stürzte 1992 das Haus Neustädter Straße 20 nicht weit von Herr R.s Wohnung ein.
Dies würde er allerdings nicht mehr miterleben, denn wie so Viele verließ auch er nach der Wende die Neustadt. Er war wohl einer der letzten Bewohner des Hauses.
Lange schon steht es inzwischen leer, doch immerhin, es steht noch. Die Entwicklung der letzten Jahre betrachtend scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch dieses Haus von neuem belebt wird.

 

Quellen

Neustädter Markt Journal 1/2011
http://www.planet-schule.de/wissenspool/alltag-in-der-ddr/inhalt/hinter­grund/wohnen.html
http://www.werkstatt-stadt.de/de/projekte/129/
http://www.leipziger-osten.de/fileadmin/UserFileMounts/Redakteure/Inhaltsbilder/Stadtteil_im_Blick/Publikationen/neue_freiraeume_leipziger_osten.pdf
http://leipziger-steine.gmxhome.de/texte/schreiber.html
http://www.harriet-trettin.de/leipzig_wo_ich_lebe.htm

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Autor
Sophia Krause

Fundstücke Leipzige Neustadt