Gusseisernes Objekt

Gusseisernes Objekt

125 x 95 x 10 mm
Gusseisen
Fundort: Bussestraße 5a
gefunden am: 24. April 2012

Ein gegossenes Stück Metall: alt und rostig, ehemals kreisförmig, heute gebrochen.
Unbekannt in seiner Funktion, gibt es Anlass zu einer ganzen Reihe an Fragen und Spekulationen.

Ein Dialog
Ist schon klar: man redet nicht mit scheinbar leblosen Dingen und man spricht in diesem Zusammenhang eigentlich auch nicht von einem Dialog – aber sei es drum. Heute spreche ich mit dir, einem gegossenen Stück Metall. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich lächerlich mache, bezeichne ich es als einen Dialog. Ich erhebe Mutmaßungen und du gibst den Anlass dazu. Du sprichst zu mir allein durch deine physische Präsenz – das muss man erstmal schaffen!

Du warst mal rund oder besser gesagt kreisförmig. Das kann man noch erkennen.
Runde Formen sprechen mich an, sie sind beruhigend. Ich würde sogar so weit gehen einer runden Form blind zu vertrauen. Ja, ich bin mir sicher, du hast mal etwas dargestellt, dem man vertrauen konnte. Vielleicht warst du Teil eines alten Ofens, verantwortlich für Wärme. Vielleicht warst du aber auch Teil eines Wasserrohrs und hast die Wasserversorgung der Bewohner deines Hauses gesichert.
Ich weiß, diese Versuche, dich einzuordnen, haben wenig Substanz und eigentlich möchte ich auch gar nicht so genau wissen, welche Funktion dir damals zugeschrieben wurde. Deine Undefinierbarkeit macht dich interessant!

Vielleicht bleibe ich zunächst bei der Beschreibung deiner äußeren Erscheinung: Du bist nicht nur kreisförmig, sondern du bist auch sehr schlank, man könnte sagen beinahe platt. Heute bist du auch nicht mehr richtig rund, sondern du hast Ecken und Kanten – Charakter! (Du merkst, ich bin dir wohl gesinnt. Ich versuche, all deine Eigenheiten positiv zu beschreiben). Du bist außerdem stabil – oder warst es mal – das Wetter hat dir ganz schön zugesetzt. Du rostest, hast Risse und Brüche. Auf der einen Seite warst du mal glatt, zwar mit einer erkennbaren Struktur – wahrscheinlich eine Eigenheit deines Materials – aber ohne Erhebungen. Auf der anderen Seite hast du ein richtiges Profil, eines mit System. Das hat man dir verpasst, du hast es dir nicht über die Jahre angeeignet.

Ich vermute, du bist alt. Nein, ich weiß es! Das sieht man dir an. Dein Dasein war bestimmt nicht immer einfach, du wurdest gebraucht, hattest wenig Zeit für Pausen. Und dann hat man dich entrissen: aus deinem gewohnten Umfeld, vermutlich nicht ohne deinen Protest. Du hast dich gewehrt, du hast dich festgehalten, mit aller Kraft. Aber dein Widerstand hat nichts genützt, du warst vielleicht nicht stark genug. Oder zu leise.
Und dann bist du zerbrochen. Genauso wie alles andere um dich herum. Du musstest weichen, man hat dich nicht mehr gebraucht. Man hat dich lieblos in den Hinterhof geschafft und auf einen Haufen geworfen. Dein neues zu Hause: ein Haufen aus Erde und anderen nicht mehr gebrauchten Dingen unter einer Kastanie. Bedeckt mit Blüten. Es hätte dich schlimmer treffen können.

Hier habe ich dich gefunden. Ich war auf der Suche, das war mein Auftrag. Es war das Haus, aus dem du stammst, das mich zu dir geführt hat. Es ist ein interessantes Haus: alt, düster, mit Erkern. Es steht an einer Ecke. Es ist nicht besonders hoch, es zählt vier Stockwerke, aber in der Fläche ist es groß. Es ist ein Haus mit Geschichte, das kann man sehen. Und man kann es nachlesen. Ganz in der Nähe befinden sich Bahngleise. Die Straße, in der es steht, wurde in der Zeit von 1839 bis 1905 erbaut. Ich könnte wetten, dass du genauso alt bist. Du warst bestimmt von Anfang an dabei! Sie ist benannt nach einem Bevollmächtigten und Schöpfer der ersten Betriebseinrichtung: der Leipzig-Dresdener-Eisenbahn-Compagnie. Das klingt wichtig, oder? 1835 wurde diese Kompanie als Aktiengesellschaft gegründet und 1839 wurde die Strecke Leipzig-Dresden freigegeben.1876 wurde diese von Bürgern initiierte Privatbahn zum Besitz der Königlich Sächsischen Staatseisenbahn. Heute gibt es das Eisenbahndenkmal, das an damals erinnern soll. Aber ich schweife ab.

Kannst Du dich noch an 1949 erinnern? Als Kurt Hentschel, der Lokführer, in deinem Haus lebte? Ob er wohl auch oft die Strecke zwischen Leipzig und Dresden gefahren ist? Kennst du noch Walter Schmidt, den Werkzeugschleifer? Oder den Malermeister Paul Lewantowski? Walter Kistler, der alte Rentner, ist mittlerweile schon tot. Hanni Lindner? War sie eine gute Ehefrau oder war sie alleinstehend? War sie schön? Und war sie mit Elise Benndorf, der Witwe befreundet? Haben sie manchmal zusammen Kaffe getrunken?
Wie war die Zeit für dich, als alle ausgezogen sind? Einige von den Bewohnern sind mit Sicherheit verstorben. Wann war das, als das Haus zum ersten Mal nicht mehr bewohnt war? Bestimmt war es eine lange Zeit ganz still im Haus. Das Einzige, was zu hören war, war das Ächzen und Knarren, das Seufzen und Stöhnen von Material. Welches Geräusch hast Du gemacht?

Und dann kam sie, die Familie Assisi. Gehört ihnen der Wagen mit dem irischen Kennzeichen, der da im Hinterhof im Gras steht und festgewachsen zu sein scheint? Das sind sie, die neuen Besitzer, die alles Alte aus dem Haus herausholen und in den Hinterhof werfen. Es tut mir leid, dass deine Geschichte hier so jäh endet, dass Du nun nicht mehr Teil dieses Hauses bist. Aber einen kleinen Trost habe ich für dich: Das Haus – dein Haus – gehört zu den wertvollen Häusern Leipzigs, die erhalten bleiben sollen. Es steht auf einer „Liste von städtebaulich und denkmalpflegerisch unverzichtbaren Gebäuden“ und wurde dort 2009 als „stark gefährdet“ eingestuft. Es ist gut, dass die Familie Assisi nun dort ist und sich um das Haus kümmert, auch wenn es bedeutet, dass viele alte Dinge weichen und Platz für den Fortgang der Geschichte machen müssen. Ich frage mich, ob sie alles alleine machen. Und ich frage mich, wie das ist, als Familie ein komplettes Haus zu bewohnen. Jeder hat ein Stockwerk mit seinem eigenen Klingelschild! Ob sie wohl glücklich sind?

Quellen:                                                                                                                    Geschichte der Wohngebiete Leipzig-Neustadt u. Leipzig-Neuschönefeld, 1989          Hrsg. Wohnbezirksausschuss
Eisenbahndenkmal Leipzig
Leipzig-Dresdner-Eisenbahn-Compagnie
Historisches Adressbuch
Stadtentwicklung Leipzig

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Autorin:
Sophia Brüning