Arztschere

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Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013

Arztschere

53 x 161 x 7 mm
Stahl
Fundort: Leipzig, Lene-Voigt-Park
Funddatum: 08.02.2013

Diese Schere gehörte einst einem Arzt früherer Zeiten. Ein kostbares Erbstück, welches von Generation zu Generation weitergereicht werden sollte. Doch dieses hatte eine andere Bestimmung.

Die Geschichte lebt von Erzählungen. Den immensen emotionalen Wert, den diese Schere verkörpert, konnte ich den Erzählungen meiner Mutter entnehmen.

Ich erinnere mich, wie meine Mutter mit Stolz erfüllt und einer Art von Zerbrechlichkeit vor mir stand und diese Schere in der Hand hielt. Den Brief, den sie mir dazu überreichte, sollte der Geschichte Nachdruck verleihen. Als ich fragte, was es mit der Schere auf sich habe, begann sie zu erzählen. Ich bemerkte die Ernsthaftigkeit und Emotionalität, die sie damit verband. Also lauschte ich aufmerksam und war gespannt auf ihre Geschichte.

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Sie erzählte mir, dass es sich um keine gewöhnliche Schere handle, sondern um ein Erbstück – eine Arztschere. Damals war es üblich, medizinische Instrumente an die nächste Generation weiterzugeben. Nun horchte ich auf, denn diese Schere sah für mich nicht danach aus, als wäre sie hunderte von Jahren alt. Meine Mutter begann zunächst zu erläutern, wie sie selbst in den Besitz der Schere kam. Ihr Vater gab sie ihr, in dem Bewusstsein, dass seine Tochter Medizin studieren wollte. Doch dazu kam es leider nie, denn missliche Umstände verwehrten ihr, diesen Weg gehen zu können. Da ihr Vater bereits starb, als meine Mutter 9 Jahre alt war, verband sie von nun an mit dieser Schere einen unschätzbaren emotionalen Wert. Die Geschichte, wie ihr Vater zu dieser Doktorschere kam, behielt sie in guter Erinnerung. Er war 18 Jahre alt, als er im Zweiten Weltkrieg in französische Gefangenschaft geriet. Seine Verletzungen brachten ihn zu der schicksalhaften Begegnung mit einem französischen Arzt. Dieser Arzt verlor seinen Sohn in diesem Krieg. Er wollte es seinem Vater gleich tun und Arzt werden, doch mit nur 18 Jahren erlag er seinen Verletzungen. Die Schere hatte nun seinen rechtmäßigen Familienerben verloren. Der Vater meiner Mutter erinnerte den Kriegsarzt so sehr an seinen Sohn, sodass er ihm die Schere mit den Worten: »Vielleicht möchtest du ja nach dem Krieg mal Arzt werden.«, weiterreichte. Voller Ehrfurcht nahm er das Erbstück an sich und war sich dem Wert dessen durchaus bewusst. Er erfuhr, dass diese Schere recht neu sei und erst in der ersten Generation lebt. Sie stünde symbolisch für die, der Familie im Ersten Weltkrieg abhanden gekommenen, Schere. Die Tradition sollte fortgesetzt werden. Der Vater des französischen Arztes schenkte ihm diese Schere zu seinem 18. Geburtstag und übergab sie ihm mit der Aufforderung, dass diese Schere genau so viele Menschenleben retten werde, wie die Ursprüngliche. Diese erfüllte ihren Zweck seit über 150 Jahren und rettete Vielen das Leben.

Demnach trägt die Schere meiner Mutter symbolischen Charakter und steht stellvertretend für ein Operationsinstrument, welches bereits zu napoleonischen Zeiten existierte. Zum Einsatz kam ein solches feines Werkzeug in der Völkerschlacht 1813 wohl eher nicht. Viel zu blutig und brutal war dieses Ereignis, um Präzisionsarbeit bei den Unmengen an Verwundeten anwenden zu können. Vielmehr wurden grobe Werkzeuge, wie Sägen oder Äxte verwendet. Denn in keiner Schlacht, amputierte man so viel und so schnell, wie bei der Völkerschlacht. Lediglich ein kleiner Schluck Alkohol sollte den Schmerz lindern. Nur wenige Minuten dauerte eine Amputation – die Zeit war knapp und die Mittel gering. So kam es zu überhäuften Lazaretten und tausenden Toten. Kurioserweise hatten die auf dem Schlachtfeld Zurückgebliebenen höhere Chancen zu überleben, als die medizinisch Versorgten in den Lazaretten. Die Ursache dafür lag darin, dass Mikroorganismen auf dem Schlachtfeld zur besseren Wundheilung beitrugen als von Medizinern durchgeführte lebenserhaltende Maßnahmen. Die Hygiene ließ zu wünschen übrig und so kam es zu Infektionen, die unweigerlich zum Tod führten. Die zu hohe Anzahl an lebensbedrohlich Verletzten ließ es einfach nicht zu, medizinisch einwandfrei versorgt zu werden – Massenabfertigung statt angemessener Wundversorgung. Arztscheren, die als Skalpelle genutzt wurden, fanden demnach keine Verwendung. In dieser Zeit hatten diese Instrumente nur eine Funktion – die des wertvollen Familienerbstückes.

Nun bin auch ich ein Teil dieser Geschichte.

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Autor: Romina Wendt

Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013