Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013
Wagenrad
400 × 150 × 400 mm
Holz, Eisen
Fundort: Kleinpösna
Funddatum: 29.04.2013
Ein Zeuge vergangener Zeiten. Alt, abgenutzt, ausgedient, vergessen.
Einst treuer Begleiter, erzählt es seine eigene Geschichte.
Sie handelt von Bewegung und Stillstand, vom Kommen und Gehen.Am Stadtrand von Leipzig, weit ab von der Anonymität und dem geschäftigen Treiben der Innenstadt, liegt Kleinpösna. Acker und Felder soweit das Auge reicht, prächtige kleine Bauernhäuser, zerfallene Scheunen und Feldwege führen von A nach B. Hier scheint die Zeit an manchen Stellen stehen geblieben zu sein.
Es ist Sonntag. Erste Sonnenstrahlen lassen den Frühling ankündigen. Die alte Dame im Haus gegenüber kehrt das liegengebliebene Laub zusammen. Die letzten Überreste des Winters sollen das schöne Bild nicht trügen. Ganz und gar in Gedanken verloren blickt sie auf die andere Straßenseite. Dort befindet sich ein wunderschönes Grundstück.
1792 erbaut, zeigt sich das Haus auch nach all den Jahren noch von seiner besten Seite. Nebenstehend stört eine zerrüttete Bauernscheune die Wahrnehmung der alten Dame. Etliche vermorschte Holzscheite und Werkzeuge sind seit Jahren die einzigen Bewohner. Das Dach legt sich müde auf die noch übrigen Dachbalken, während sich die Seitenwände schon langsam im Dunst der Zeit auflösen.
Auf dem Boden haben sich kräftige giftgrüne Grashalme ein lauschiges Plätzchen gesucht. Statt einer Lampe, wird man vom sattem Tageslicht begrüßt, welches sich seinen Weg durch das Dach bahnt. Lässt man seinen Blick aber langsam und behutsam durch den Raum kreisen, entdeckt man hier und da auch allerlei Krimskrams. Verrostete Dosen, verstaubte Gläser, Weinflaschen, Flechtkörbe, defekte Pflüge und Schaufeln. Wahrscheinlich könnte man die Liste bis in das Unendliche treiben und doch nicht jedem Teil gerecht werden.
Auch ein kaputtes Wagenrad befindet sich in dem hilflosen Durcheinander.
Fast schon majestätisch hat es seinen Platz weit ab vom Eingangstor gefunden. Vergessen liegt es in einer Festung aus Grashalmen, umhüllt vom sanften Streicheln der Sonnenstrahlen. Ab und zu erweisen ihm kleine Feldmäuse oder Katzen die Ehre. Doch schon seit etlichen Jahren behütet es unbemerkt sein kleines Geheimnis. Verrostet und mit einer Decke aus Spinnenweben erzählt es, schweigend seine Geschichte. Betrachtet man es genauer hat es seinen alten Glanz noch nicht verloren. Geprägt vom Wandel der Zeit, ist es Zeuge eines ganz bestimmten Ereignisses.
Flüsternd und unaufdringlich berichtet es über das Jahr 1813.
Das Dorf war einst Schauplatz der Völkerschlacht bei Leipzig. Tapfere Soldaten zeigten sich mit Brüderlichkeit, Verantwortung, Ehre sowie Entschlossenheit und ließen dennoch ihr Leben auf den Schlachtfeldern. Riesige Rauchschwaden umhüllten tagelang, wie giftiger Nebel die Ländereien in und um die Stadt.
Der Geruch nach Schießpulver, Angst und Trauer belegte die Luft. Viele Dörfer und ganze Landstriche wurden besetzt, geplündert und abgebrannt. Der Verlust der zivilen Bevölkerung war enorm. Hunger plagte die Menschen. Krankheiten zogen wie eisige Stürme durch die Stadt und machten sich auf die Suche nach ihren Ergebenen. Auch auf den Schlachtfeldern herrschte heilloses Chaos. Leichen waren an der Tagesordnung und mussten abtransportiert werden. Versorgung für die hungrigen Soldaten sollten herangebracht, Kanonenwagen in Position geschoben und Verwundete zum Lazarett gefahren werden.
Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns an jenes Wagenrad in der Ecke der Scheune erinnern sollten. Beschützt und ohne Sorgen konnte es unbemerkt viele Jahre dort verweilen. Man kann nicht genau sagen welche ehrwürdige Aufgabe es zu erledigen hatte. Aber schaut man es sich genau an, ist es gezeichnet von den Lasten, die es tragen musste. Narben und Risse verdeutlichen die Gewalt der Vergangenheit.
Die alte Dame im Vorbeet ihres Hauses kehrt urplötzlich wieder aus ihrer Gedankenwelt zurück. Zu verwunderlich sind die Geschehnisse, welche sie in den letzten fünf Minuten beobachtet hatte. Das Haus dort gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ist eines der vielen hier im Dorf, welches nicht mehr bewohnt ist. Schon lange nicht mehr. Früher in den 60´er Jahren lebte da noch eine große Familie. Aber auch die haben sich wahrscheinlich ihren Weg in die Stadt gesucht.
Nur die Scheune, da ist sie sich sicher, die haben sie nicht betreten. Zu groß war die Gefahr des Einsturzes. Bloß heute ist etwas anders. Eine junge Frau verlässt dieses zerfallene Relikt aus vergangenen Zeiten. In der Hand trägt sie ein kaputtes Wagenrad. Vermutlich das eines Handwagens. Verschmutz und noch nicht einmal funktionstüchtig. Was will man denn mit so einem Ding? Verdattert widmet sie sich wieder ihrem Laub. Doch insgeheim beschäftigt sie das Wagenrad. Unwissend über dessen Geheimnis, verdrängt sie ihre Gedanken.
Literatur- und Quellenverzeichnis
Leipzig zur Zeit der Völkerschlacht 1813: subjektive Zeitberichte und Dokumente in Reprints. Kulturdirektion Leipzig 1988
Constanze Schmidt