Göttinnen als Archetypen

Was sind eigentlich Archetypen? Was haben die griechischen Göttinnen damit zu tun? Und welchen Bezug gibt es zu mir?

Jean Shinoda Bolen entwickelte 1984 die Archetypen-Theorie von C. G. Jung weiter und schuf eine neue Typologie als Mittel zum Verstehen psychischer Konflikte. Archetypen sind als Grundmuster instinktiven Verhaltens, die allen Menschen als kollektives Unterbewusstes inne wohnen, zu verstehen. Sie entfernt sich von dem ursprünglichen Entweder-Oder-Prinzips in Jungs Theorie und geht davon aus, dass mehrere Archetypen in einer Frau aktiv sein können. Je nach Situation, Ereignissen, Lebensphasen, Hormonen, Handlungen, Beziehungen zu anderen Menschen, sowie gesellschaftlichen bzw. familiären Umfeld können die verschiedenen Göttinnen aktiviert werden.
Bolen greift auf die antike griechische Mythologie als Erkenntnisinstrument zurück, da die Mythen nach tausenden Jahren immer noch aktuell geblieben sind. Die antiken Mythen stehen somit symbolisch für aktuelle Zustände der westlichen Welt. In ihrem Buch „Göttinnen in jeder Frau – Psychologie einer neuen Weiblichkeit“ bezieht sie sich auf sieben verschiedene Göttinnen der griechischen Mythologie, wobei jede stellvertretend für einen weiblichen Archetyp steht: Artemis (Schwester), Athene (Strategin), Hestia (Hüterin des Herdes), Hera (Ehefrau), Demeter (Mutter), Persephone (Tochter), Aphrodite (Geliebte). Sie versteht diese Göttinnen als entlehnte Frauenbilder. Zwar kommt den Göttinnen in den Mythen mehr Macht zu als einer realen Frau in unserer heutigen Gesellschaft, jedoch verfügen die Göttinnen durchaus über sehr menschliche Verhaltensweisen. Und ebenso wie die Frauen in der heutigen westlichen Gesellschaft, sahen sich die Göttinnen in der griechischen Mythologie mit einem patriarchalen System konfrontiert. So steht der Olymp symbolisch für das heutige Patriarchat.

Bolen unterteilt die sieben Göttinnen in drei Gruppen. Die jungfräulichen Göttinnen (Artemis, Athene und Hestia), die verletzlichen Göttinnen (Hera, Demeter und Persephone) und die alchemistische Göttin (Aphrodite). Innerhalb der Gruppen weisen die Göttinnen Gemeinsamkeiten auf.

Die jungfräulichen Göttinnen verkörpern vor allem den Aspekt der Unabhängigkeit, der Aktivität und der Beziehungslosigkeit. Ihre Archetypen stehen für die Entfaltung von Talenten, die Verfolgung von eigenen Interessen sowie das „eins mit sich selbst sein“ während diese von gesellschaftlichen Konventionen unberührt bleiben. Sie haben alle eine individuelle Anpassungsmethode an die gesellschaftlichen Normen und Konventionen: Trennung (Artemis), Identifikation (Athene) und Rückzug (Hestia). Sie verfügen über ein fokussiertes Bewusstsein, d.h. sie können sich voll und ganz auf das konzentrieren, was für sie selbst von Bedeutung ist. Bei dem Artemis- und dem Athene-Archetyp ist das Bewusstsein nach außen gerichtet und leistungsorientiert, beim Hestia-Archetyp ist es nach innen gerichtet.

Die verletzlichen Göttinnen tragen ihren Namen aufgrund ihrer Erfahrungen von Demütigung und Machtlosigkeit. Sie wurden in ihren Mythen zu Opfern gemacht und durchlebten jeweils eine Phase des Glücks, eine Phase der Machtlosigkeit und eine Phase der Wiederherstellung. Ihre Archetypen verkörpern die traditionellen Frauenrollen einer patriarchalen Gesellschaft. Sie sind auf Beziehungen ausgerichtet und ihre Identität und ihr Wohlergehen sind von ihren Beziehungen abhängig. Sie streben nach Anerkennung, Liebe und Aufmerksamkeit und haben alle ein individuelles Bedürfnis: nach einem*einer Partner*in (Hera), nach einer nährenden Rolle (Demeter) und nach der Abhängigkeit (Persephone). Sie verfügen über ein schwebendes Bewusstsein, d.h. sie richten ihre Aufmerksamkeit besonders auf ihre Außenwelt und auf das Innenleben der Menschen, die sie umgeben.

Die alchemistische Göttin bildet eine Gruppe für sich allein, da sie über Eigenschaften beider eben beschriebenen Gruppen verfügt, sich aber in keine einordnen lässt. Sie ist die Göttin, die die verschiedensten Beziehungen eingeht aber dabei nie verletzt wird. Ihre Beziehungen basieren auf Gefühlen gegenseitiger Leidenschaft. Dennoch stellen sie keinen langfristigen Verpflichtungen dar. Ihr Archetyp beeinflusst Freude, Liebe, Schönheit, Sexualität, Sinnlichkeit und Kreativität. Er ist stark intuitiv ausgerichtet. Sie verfügt über ein Bewusstsein im „hier und jetzt“, d.h. es ist sowohl fokussiert als auch rezeptiv, sie ist in der Lage eine Situation zu überblicken und sich gleichzeitig von ihr beeinflussen lassen. Sie kann sich aufrichtig auf etwas einlassen, jedoch kann dies nur vorübergehend sein.

Nach Bolen ist das Wissen um die Göttinnen ein Mittel für Frauen, um sich selbst besser verstehen und gegebenenfalls psychische Schwächen überwinden zu können. So zeigt sie in ihrer Typologie die Stärken und Schwächen der Göttinnen auf und geht weiter auf individuelle Entwicklungsmöglichkeiten ein.

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Quelle: Bolen, J. (1997). Göttinnen in jeder Frau. Psychologie einer neuen Weiblichkeit. 2. Aufl. München: Wilhelm Heyne Verlag.