Nagelbohrer

Artefakte moderner Archäologie

Nagelbohrer

45 x 140 x 4
geformter Stacheldraht
Fundort: Eisenach
gefunden ca.  Juli 1989

Dieser Handbohrer wurde in Eisenach in einem alten Holzschuppen in einen Balken eingedreht gefunden. Er stammt ursprünglich aus Bienów und wurde bei einer Flucht nach Deutschland mitgenommen. Er ist aus Metall und sieht benutzt und leicht rostig aus.

Der Weg des Nagelbohrers

Wenn durch Zufall gefundene Dinge sprechen könnten, würden die Betrachter doch oft recht erstaunt sein, was für interessante und weite Wege sie in Taschen oder Koffern gewandert sein könnten. In ihrer Erscheinung und ihrer Funktion können sie doch ganz simpel und banal wirken. Man nimmt den Gegenstand in die Hand, benutzt ihn und legt ihn wieder zur Seite und wenn es solche alten Gegenstände sind, so vergisst man diese oder wirft sie gar weg.

Dieser alte etwas rostige, 140 mm lange Nagelbohrer, der aus einem einzigen spiralförmigen gebogenen Stück Stahldraht mit einem 45 mm breitem gebogenen Handgriff besteht gehört zu diesen Dingen, die man kaum noch braucht und nicht zu den Gegenständen, die wegen ihrer Seltenheit auf den Betrachter ein Erstaunen hervorrufen könnten. Es gibt ja doch noch den einen oder anderen Nagelbohrer den man in einer Werkzeugkiste findet und es ist auch heute noch möglich in einem Baumarkt solche Handbohrer zu finden, auch wenn man etwas Suchen muss.

Dieser einfache und unscheinbare Nagelbohrer, den ich als Kind gefunden habe, hat aber schon Menschen begleitet, die einen langen und beschwerlichen Weg hinter sich haben.

Als Kind verbracht ich in den Sommerferien viel Zeit in Eisenach im Haus meiner Großeltern und dort habe ich habe im Juli 1989 (im Zeitraum meiner ersten Sommerferien vom 01.07.1989 – 01.09.1989) im Holzschuppen meiner Großeltern diesen Nagelbohrer gefunden. Meine Großeltern haben hinter ihrem, nach dem Krieg gekauften alten Mehrfamilienhaus einen kleinen Hof und eine Wiese, die eher an einen steilen Abhang erinnert. Wenn man diesen Abhang über eine kleine Steintreppe hochsteigt kommt man zu diesem alten Holzschuppen. Darin war der Nagelbohrer in einen Balken eingedreht und wurde als ein Haken für eine Tasche mit alten Glasflaschen genutzt.

Mit meiner Jacke bin ich daran hängengeblieben, der Beutel ist mir heruntergefallen und einige Flaschen sind zerbrochen. Erst durch diese Situation lenkte sich mein Interesse auf diesen unscheinbaren Bohrer. Weil ich als Kind nicht erkannte wozu sonst dieser Gegenstand notwendig war, (denn, dass es keine normaler Nagel war ist mir wegen dieser aus Metall gebogenen Schlaufe am oberen Ende aufgefallen) zeigte ich es meiner Großmutter und fragte wozu man noch so einen seltsamen Nagel nutzen kann.

Nagelbohrer werden zum Vorbohren von Löchern für Nägel genutzt und man nannte diese auch Schnellbohrer, Theaterbohrer oder Telegraphenbohrer und sie gehören zur Sorte der Stangenbohrer. Man nutzte diese vor allem, wenn man keine Bohrmaschine besaß. Heute benötigt man solche Handbohrer meist zum Basteln, aber damals, war es wichtig solch einen Gegensand zu besitzen, um schnell und per Hand Löcher zu bohren. Wenn man sich nun diesen gefundenen Nagelbohrer anschaut sieht man, das er schon öfter benutzt worden war. Vielleicht wurde er auch erst vergessen und nicht mehr genutzt, als mein Großvater eine Bohrmaschine kaufte? Der Bohrer wurde für meine Großeltern in seiner Nutzungsfunktion überflüssig und nur noch als Nagel beziehungsweise als Haken zufällig verwendet.

Als ich nun diesen Bohrer meiner Großmutter zeigte, erinnerte sie sich daran wie es dazu kam, das dieser Bohrer auf die Reisen gekommen ist. Meine Großeltern kommen aus Schlesien, ihre Eltern hatten dort einen Bauernhof in dem kleinen Dorf Benau, das heute zu Polen gehört, Bieniów heißt und immer noch sehr klein ist (ca.1500 EW). Damals gehörte dieses Gebiet zu Deutschland, doch als der 2. Weltkrieg ausgebrochen war und Deutschland diese Gebiete an Polen abgeben mussten, verloren sie ihre Höfe und mussten sie 1945 in kürzester Zeit verlassen. Schnell packten sie alle wichtigen und nützlichen Dinge in findbare Taschen und Koffer, die man dann auf einem Wagen ablegte. Mehrere Monate waren sie auf der Flucht durch den Krieg.

Erst durch Zufall fand meine Großmutter in einer der Taschen die sie mitgenommen hatten diesen Nagelbohrer. Er war nicht wegen seiner Nützlichkeit mitgekommen, denn auf dieser Flucht brauchte man nichts weniger als einen Nagelbohrer, es war nur so, dass er sich auf dem Boden einer Tasche befand. Er war sozusagen beim schnellen und hektischen Aussortieren von nutzlosen Dingen vor eine Flucht von zu Hause weg beim Packen der Habseligkeiten vergessen worden und ist in der Tasche geblieben.

Nun hatte dieser simple Nagelbohrer eine Wichtigkeit wegen dem langen und beschwerlichen Weg und der Funktionalität in der neuen Situation gewonnen: er wurde dazu genutzt in das neue Haus in Eisenach Löcher in die Wände zu bohren, Holzteile zusammen zu fügen und andere Aufgaben zu erledigen. Aber über die Jahre wurde dieser von meinen Großeltern wieder vergessen. Nur der Zufall, dass meine Jacke sich darin verhakte und das scheppernde Geräusch zersplitternder Glasflaschen erweckte meine Aufmerksamkeit und ihre Erinnerung an die verlorene Heimat.

Nie wieder sind meine Großeltern auch nur ein einziges mal zurückgekehrt nach Polen, auch nicht, als die dies hätten tun können. Nicht einmal zum Wiedersehen der alten Heimat und vielleicht hält sie der schmerzlichen und schnelle Abschied davon ab.

Nur wenige „nützliche“ Dinge außer Bekleidung und Fotos haben sie mitgenommen. Daher scheint mir im Nachhinein die Besonderheit dieses Nagelbohrers zu beachten, da an seinem unscheinbaren Aussehen doch so viel Erinnerung hängen kann.

Quellen:

Flucht aus Schlesien, Jahresarbeit von Christin Mende
Bilder von Bieniów
altes Handwerkzeug
Schlesien, Wikipedia
Bieniów, Wikipedia

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Autor: Christine Wegner
Foto: Christine Wegner

Ein Gedanke zu „Nagelbohrer

  1. Jens Meier

    Ich habe auch einen so schönen Nagelbohrer. Ich bohre damit immer meine Nägel. Durch Kontakt mit Prof. Emil Eisenbart ist mir die Bedeutung des Nagelbohrers im Speziellen erst bewusst geworden. Ich lade Sie gern zum Seminar „Der Nagelboher – gestern und heute“ an der Universität Toronto ein.
    In inniger Bohrleidenschaft
    Ihr Emil Meier

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