Taschenspiegel

Artefakte moderner Archäologie

Taschenspiegel
70 × 78 × 9 mm
Kunststoff, Spiegelglas, Metall
Fundort: Montmartre, Paris
gefunden am 14. August 2001

Paris an einem lauen Sommerabend Mitte August. Eine neue Stadt und ein neuer Lebensabschnitt. Ein Café, in dem ich darüber nachdenke, was bisher war und was kommen wird. Ein kleiner Spiegel, der zum ständigen Begleiter wird.

Stimmen wehen herüber aus den kleinen Cafés, die Tische und Stühle raus gestellt haben auf das Trottoir. Ein paar Ecken weiter beginnen Straßenmusiker mit ihrem Programm. Es ist mein erster Abend dieser Stadt, die für mich mein neues Zuhause werden soll.

Von meiner Wohnung am Place Stalingrad bin ich hergelaufen, um die Straßen meiner neuen Umgebung kennen zu lernen. Ich lasse mich treiben durch die Straßen, die erst noch breit, dann aber immer enger werden. Nach einer Stunde stehe ich am Fuße des Butte Montmartre – dem Hügel, auf dessen Gipfel die weithin sichtbare Basilika Sacré-Cœur steht – und mitten im Touristengewimmel. Kaum zu glauben, wie viel hier auch noch am Abend los ist. Ich steige auf den Gipfel, von dem man einen herrlichen Blick über die Stadt hat, und laufe hinter der Basilika weiter in das 18. Arrondissement hinein. Sobald man hinter der Kirche ist, verebbt der Touristenstrom merklich.

Es ist wieder ruhiger auf den Straßen und ich entschließe mich, hier in ein Café einzukehren und meinen Gedanken nachzuhängen. Ich setze mich draußen an einen kleinen Tisch, von dem aus ich das Treiben auf der Straße beobachten kann. Als ich meinen Stuhl etwas verrücke, klappert es auf dem Boden. Ich sehe gleich, dass es ein Spiegel ist, weil die zwei Teile, die den Spiegel verbergen, gegeneinander aufgeschoben sind. Die zwei braun-rötlich schimmernden marmorierten Kunststoffteile haben die Form einer Jakobsmuschel, im Inneren des hinteren Teils ist der kleine runde Spiegel eingelassen, der in der Mitte zerbrochen ist. Ich betrachte mich darin. Auf einmal erscheint mir mein Fund wie ein Zeichen: als hätte ihn irgendjemand hier platziert, um mir an diesem Abend, an dem ich über mich und meine Zukunft sinnieren will, sprichwörtlich und buchstäblich einen Spiegel vorzuhalten. Heißt es nicht, das Gesicht sei das Spiegelbild der Seele? Also, was sehe ich?

Zuallererst sehe ich, dass der Kellner an meinen Tisch kommt, also lege ich den Spiegel schnell weg und gebe meine Bestellung auf. Wieder allein mit dem Spiegel, versuche ich, dessen Herkunft zu erahnen. Er würde so gut in die Zeit um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert passen. Die Zeit, in der sich Montmartre zu einem internationalen Zentrum der europäischen Avantgarde herausbildete. Die Zeit, in der sich die Pariser Bohème in den Salons und Cafés trifft und Dichter und Sänger dort ihre Werke vortragen. Eine Zeit, in der sich Wegweisendes in der Bildenden Kunst tut, Künstler ihre Ateliers im Montmartre beziehen und in der der Kunsthändler Ambroise Vollard die damals noch umstrittenen Künstler wie Pablo Picasso, Henri Matisse und Paul Cézanne in seinen Räumen zusammenbringt. Hier auf dem Montmartre sprengen Picasso und Georges Braques den traditionellen Rahmen westlicher Kunst und begründen den Kubismus. Plötzlich reicht es, eine Violine, eine Flasche Wein und eine Zeitung nur noch fragmentarisch abzubilden, um die Poesie der Bohème einzufangen. Und die Zeit, in der das Viertel Montmartre geprägt war von verschiedensten Unterhaltungsformen und der Lebensfreude in den Tanzlokalen, Kneipen und Kabaretts.

Und eine schöne Tänzerin könnte diesen Spiegel besessen haben. Vielleicht trug sie ihn immer bei sich, um vor der Show zu prüfen ob der Lippenstift nicht verschmiert ist und ob die Frisur noch sitzt. Um sich vor einer Verabredung zu vergewissern, dass der Teint und die Wangen strahlen. Die Tänzerin würde jetzt nicht mehr leben. Aber vielleicht hat sie ihren Spiegel weitergegeben an ihre Tochter oder Enkelin. Sie wird ihnen erzählt haben von dieser Zeit am Montmartre. Wahrscheinlich hat sie ihnen vorgeschwärmt von der Lust und der Leichtigkeit, die damals in der Luft lagen. So träume ich vor mich hin, in eine vergangene Zeit.

Vielleicht ist der Spiegel aber auch sehr viel später erst hergestellt worden und hat eine völlig andere, unglamouröse Geschichte hinter sich. Ich denke darüber nach, mich zu erkundigen bei Antiquitätenhändlern oder im Kunstgewerbemuseum. Etwas später verwerfe ich das Vorhaben: für mich hat der Spiegel schon jetzt seine eigene Geschichte. Sogar eine, die sich immer wieder weiterentwickeln lässt. Für mich ist der Spiegel Zeugnis von Paris aufregenden Zeiten und Menschen der Belle Epoque! Ich zahle meinen Espresso und mache mich mit meinem Fund auf den Weg in die Pariser Nacht, in mein neues, aufregendes Leben. Ich bin angekommen.

Literatur
Blöß, Willi: Pablo Picasso. Ich der König. Düsseldorf 2002.
Wilson, Sarah (Hrsg.): Paris. Metropole der Kunst 1900-1968. Köln 2002.

Links
Website Taschenspiegel
Website Paris Montmartre

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Autor
Susanne Subklew

Foto
Subklew, Susanne

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