Klassenbuch


Ordnung ist das halbe Leben

Alle Schülerinnen und Schüler kennen es. Das altbekannte Klassenbuch. Während Lehrende seit mehr als 100 Jahren ordnungsgemäß alle Arbeitsschritte und Auffälligkeiten dokumentieren um Ordnung zu bewahren, glänzen auf anderer Seite die Lernenden mit facettenreichem Verhalten. Das Klassenbuch ist ein Fundus der sachlichen Berichterstattung, der seit vielen Jahrzehnten einen Einblick in den Schulalltag gewährleistet.

Was wären wir ohne das Klassenbuch? Die Fehlzeiten wären nicht mehr dokumentiert, der Stundenplan wäre nicht vorhanden. Es gäbe keine Liste mit Telefonnummern und Mitgliedern in der Klasse. Wichtige Fragen wie: Wer ist Klassensprecherin? Wer hat heute Tafeldienst? Wo ist die Entschuldigung von Andi Theke vom 31.5.2025 ? Wären für immer unbeantwortet. Um diesen Zuständen ein Ende zu bereiten, wurde vor vielen Jahrzehnten das Klassenbuch erfunden um ein Statement gegen Anarchie in Schulen zu setzen. Das Klassenbuch verkörpert seit jeher monumental unser Schulsystem und ist das Gerüst und der Leitfaden jeder Lehrkraft. 

Ordnung und Struktur sind für manche Schüler*innen Begriffe, bei denen sich innerlich die Haare sträuben und jede Spontaneität vernichtet scheint. Sie scheinen spielerische Ansätze und den „Über-den-Tellerrand-Blick“ zu vernichten und uns zu lebendigen Maschinen zu machen. Nichtsdestotrotz sind sie ein wichtiges Werkzeug und können uns, im richtigen Maße, einiges an Arbeit, Zeit und Mühen ersparen, sodass wir unsere Kapazitäten anderweitig einsetzen können. Zur Revolutionierung unseres Schulsystems zum Beispiel. 

Unser Bildungssytem

hat seine Ursprünge im Ende des 19 Jahrhunderts im preußischen Reich. Die Noten 1 bis 6 kamen dann zu Beginn des 20 Jahrhunderts hinzu. In dieser Zeit hatte die Schule eine militärische Funktion und sollte Bürgerinnen und Bürger staatskonform ausbilden. Reformpädagog*innen wie Maria Montessori konnten sich nur schwer gegen die festen Strukturen des Staates hindurchsetzen, erkannten aber schon früh die pädagogischen Problematiken des vorherrschenden Systems. Trotz einer Umstrukturierung in den 60er Jahren, die es Lehrkräften revolutionärer Weise verbot, ihre Schüler*innen zu schlagen und das Erscheinungsbild der Schulen schon einmal deutlich veränderte, wurde ein ähnliches Grundgerüst beinahe vollständig erhalten. Wie sinnvoll diese militärisch geprägten Strukturen heute noch sind, ist zurecht stark umstritten. 

Denn viel wichtiger als die Frage nach dem Klassenbuchdienst ist zum Beispiel die Frage nach der Bildungsgleichheit. Wenn Noten generell und erwiesenermaßen zu Gunsten elitärer Herkunft vergeben werden und Schülerinnen und Schüler eben nicht gerecht bewertet werden können, wem nützt das Konstrukt dann wirklich? Abgesehen vom enorm hohen Leistungsdruck, dem ständigen Vergleichen und Frustrationen, die oft auch durch das Elternhaus bestätigt werden, haben Kinder „sozial schwacher“ Herkunft eine deutlich geringere Chance auf ein späteres Studium als deren „sozial stärkere“ Mitschüler*innen. 

Beim zunehmenden Leistungsdruck unter Kindern und Jugendlichen könnte auch die Priorisierung von Quantität anstatt Qualität der Lehrplaninhalte eine maßgebliche Rolle spielen. Zu viel Stoff in zu kurzer Zeit kann kognitiv überhaupt nicht aufgenommen werden. Und das ist noch nicht alles. Unser eingetrichtertes Wissen findet zumeist überhaupt keine Anwendung. Wäre es nicht sinnvoller, über aktuelle und konkrete Probleme zu diskutieren und im Zuge dessen gemeinsam Methoden und Lösungen zu erarbeiten, anstatt unser Potenzial für kurzzeitiges Wissen ins Leere zu vergeuden?

Die Berufe, auf die wir heute noch in den Schulen vorbereitet werden, entsprechen außerdem nicht mehr ausreichend dem, was in der Zukunft zu bewältigen sein wird. Unsere Kinder werden später vermutlich größtenteils in Berufen arbeiten müssen, welche heute noch nicht einmal erfunden sind. Einige Gründe dafür sind klar die Digitalisierung unseres Alltags und Katastrophen wie der Klimawandel. Bereiche, denen in Schulen zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.

Ist es darum nicht viel wichtiger, dass wir neue Ansichten gewinnen, als uns mit alten Strukturen herumzuschlagen? Dass wir die Interessen in der Perspektivlosigkeit einer fragilen Zukunft fördern? Dass wir Kinder an die Hand nehmen und ihre Probleme ernst nehmen und dass sie ihre eigenen Strukturen finden?

Auf viele Fragen gibt es wenig Antworten und wenig ernsthafte Bereitschaft, grundlegende Veränderungen zu treffen. Probleme können von Lehrkräften vielleicht erkannt werden, jedoch fehlt es an Zeit und Personal um individueller auf einzelne Kinder und deren Probleme, Stärken und Ideen eingehen zu können. Doch wenn uns die Zukunft unserer Kinder wirklich am Herzen liegt, sollten wir ernsthaft darüber nachdenken, warum Hausaufgaben nicht erledigt werden, Schule geschwänzt wird und immer mehr Jugendliche das Gefühl haben einer großen Leere voller irrelevanter Möglichkeiten ausgeliefert zu sein. Mir selbst ging es zum Ende meiner Schullaufbahn ähnlich und ehrlich gesagt war mir nichts egaler als das Klassenbuch. 

Die Schule ist nach wie vor ein Ort der Gegensätze, in dem Individuen zumeist mit einem Einheitsmaß vermessen werden müssen. Ein wenig Ordnung hat sicherlich noch niemandem geschadet, doch sollte nicht vergessen werden, dass das Leben vielleicht nicht nur in Spalten, den Zahlen 1 bis 6 und Randbemerkungen stattfindet. 

Quellen:

Miethe, Ingrid/ Wagner-Diehl, Dominik/ Kleber, Birthe (2021): Bildungsungleichheit. Von historischen Ursprüngen zu aktuellen Debatten. Ein Lehrbuch. 
Stuttgart. Utb Verlag. 

Precht, Richard David (2014): 
Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern
München. Goldmann Verlag.