ROHRZANGE


Wenn Wissen über Können steht,
dann stimmt was nicht.

Was kommt dir in den Sinn, wenn du an eine Rohrzange denkst? Welche Bilder entstehen in deinem Kopf, wenn du an Handwerker:innen denkst. Und welche Vorstellungen hast du von einer Klempner:in?

Gedankenexperiment: Wir gucken uns ein Konzert an und sitzen in Stuhlreihen. Nach einer Weile stellt sich eine Person hin, sieht dadurch besser. Mit der Zeit rücken andere nach stellen sich auch hin. Damit wird die Sicht auf die Bühne für uns alle verschlechtert. Aber was passiert wenn sich (fast) alle hinstellen? – Dann können diejenigen, die zurückbleiben, diejenigen die sich nicht hinstellen können, nichts mehr sehen.

Hier lohnt es sich einen Blick auf die deutschen Schulabschlüsse zu richten. Seit 1995 hat die Zahl der Abiturient:innen um ein viertel zugenommen.1 Somit haben inzwischen mehr als die Hälfte der 20-24 jährigen ein Abitur.2 Nur wenige Schulabgänger:innen bleiben mit einem Hauptschulabschluss zurück, – können die Bühne nicht mehr sehen – oder lassen wir die metaphorische Sprache: haben keine Chance auf einen guten Ausbildungsplatz. Weil so viele Menschen die Schule mit dem Abitur verlassen, ist der Hauptschulabschluss, der früher eine solide Sache war, heute kaum noch etwas Wert.

Aber was passiert mit jenen, die auf Stühlen stehen – jenen also, die Abitur machen? Weil so viele Menschen ein Abitur machen, ist dies schon längst kein Garant mehr für sichere Jobaussichten oder Studienzugänge. Somit ist schulische Bildung ähnlich einer Währung, Inflationen ausgesetzt.

Wenn sich alle auf Stühle stellen…

Ein ähnliches Szenario zeigt sich im hier dargestellten prozentualen Vergleich neuer Ausbildungsverträge in Bezug zu Studienanfänger:innen:

Berufliche Bildung (PDF anzeigen)

Seit 2008 sank die Anzahl neuer Ausbildungsverträge um knapp 24 % (Stand 2020) während die Zahl der Studienanfänger:innen im gleichen Zeitraum um 24 % stieg.3,4 Doch was sagen diese Zahlen über die gesellschaftliche Anerkennung beruflicher Bildung aus? Können wir aus den steigenden Studienzahlen sowie den sinkenden Zahlen neuer Ausbildungsverträge im Handwerk (24 % ↓)3 den Schluss ziehen, dass handwerkliche bzw. berufliche Bildung weniger angesehen ist?

„Ziel muss die gesellschaftliche Aufwertung der beruflichen Bildung sein!“5

Aladin El-Mafaalani

Was neben den dargestellten Zahlen klare Worte spricht, ist der große Bedarf an Azubis im Handwerk.6 Betriebe suchen händeringend und für Auftraggeber:innen wird es immer schwieriger gut ausgebildete Handwerker:innen für geplante Bauvorhaben oder Reparaturen zu finden. Wohingegen Studierende nach ihrer akademischen Ausbildung nicht unbedingt in besser bezahlten oder sichereren Arbeitsverhältnissen landen.

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Was kann an dieser Stelle gesellschaftlich problematische Ungleichheiten auflösen? Ein Ziel wäre die Aufwertung der dualen Ausbildung. Mit Blick auf die sozial integrative Wirkung des Handwerks ist eine Aufwertung handwerklicher Bildung längst überfällig. Denn die Handwerksbetriebe sind die, die momentan Geflüchtete oder Menschen mit geringeren Bildungschancen, auf dem Arbeitsmarkt integrieren. Also jene, die nicht die Möglichkeit haben sich für bessere Sicht auf Stühle zu stellen.
Was wäre wenn ein Handwerksmeister einem Professor in der gesellschaftlichen Stellung, sowie in der Gehaltserwartung angeglichen wird? Sicherlich würden mehr Menschen eine berufliche Ausbildung anfangen, wenn sowohl die Lohnerwartung, als auch die Anerkennung an die gesellschaftliche Relevanz des Berufes angepasst würde.

Mit der Aufwertung Handwerklicher Bildung würden wir wegkommen von einer inflationären Akademisierung unserer Gesellschaften und anerkennen, dass auch Können einen Wert hat.

Vielleicht überdenkst auch du deine Stereotype und nimmst von Zeit zu Zeit die Rohrzange zur Hand oder lädst deine Klempnerin auf einen Kaffee ein.

Quellen

1Abiturientenquote (2022). In: Wikipedia. Online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Abiturientenquote (zuletzt besucht: 14.06.22, 11 Uhr)

2Statistisches Bundesamt (2019). 20- bis 24-Jährige: Mehr als die Hälfte hat Abitur. Online unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/02/PD19_055_213.html (zuletzt besucht: 14.06.22, 11:08 Uhr)

3Statistisches Bundesamt (2022). Onlinetabelle unter: https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation=abruftabelleBearbeiten&levelindex=0&levelid=1655198026472&auswahloperation=abruftabelleAuspraegungAuswaehlen&auswahlverzeichnis=ordnungsstruktur&auswahlziel=werteabruf&code=21211-0001&auswahltext=&werteabruf=Werteabruf#abreadcrumb (zuletzt besucht: 14.06.22, 11:17 Uhr)

4Statistisches Bundesamt (2022). Onlinetabelle unter: https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation=abruftabelleBearbeiten&levelindex=1&levelid=1655198313243&auswahloperation=abruftabelleAuspraegungAuswaehlen&auswahlverzeichnis=ordnungsstruktur&auswahlziel=werteabruf&code=21311-0010&auswahltext=&werteabruf=Werteabruf#abreadcrumb (zuletzt besucht: 14.06.22, 11:20 Uhr)

5Aladin El-Mafaalani (2020). Wie schwer ist sozialer Aufstieg in Deutschland. Online im: Realitäter*innen Podcast. https://open.spotify.com/episode/60Q8H2Pkc3GD5YLgpqaVKW?si=JgYR22QaS5-krIlFpCUDfg&nd=1 (zuletzt besucht: 15.06.22, 09:33 Uhr)

6Michael Kröger (2022). Betriebe suchen händeringend Auszubildende. In: Spiegel – Job & Karriere. Online unter: https://www.spiegel.de/karriere/ausbildung-63-000-offene-stellen-betriebe-suchen-haenderingend-auszubildende-a-f0726e0f-d95b-4a88-8ce7-a29d7a16c70f (zuletzt besucht: 14.06.22, 11:23 Uhr)

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