Schuluhr


Zeitfragen

­Zeitwahrnehmung ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Wenn uns eine Sache leicht von der Hand geht, wir in einer Tätigkeit aufgehen, ist damit zumeist auch eine beschleunigte Wahrnehmung von Zeit verbunden – die Zeit scheint zu fliegen. Wenn wir wiederum eine Sache oder deren Ende kaum erwarten können und dabei keinen Handlungsspielraum für uns sehen, beobachten wir das Gegenteil, die Zeit scheint zu stehen. Davon völlig unberührt takten Uhren allgegenwärtig und unablässig unseren Tagesablauf mit scheinbar objektiver Präzision.

Synchronisation und Standardisierung sind Phänomene der industriellen Moderne. Sowohl die Eisenbahn als auch die Produktionsabläufe einer Fabrik sind ohne exakte Einteilung der Zeit nicht denkbar. Der Schule kommt in dieser Entwicklung eine besondere gesellschaftliche Rolle zu. Für die sich ausdifferenzierenden Arbeitsfelder in Industrie und Verwaltung ist eine bedarfsgerechte Bildung notwendig, die sich aber auch in ihrem Ablauf an die Zeitstruktur der Arbeitswelt anzupassen muss. Ein Sinnbild für diese Entwicklung ist die Schuluhr, die in ihrer zentralen Sichtbarkeit und Bedeutung der Werksuhr gleicht.

In unserer von Zeitökonomie und Optimierung geprägten Gegenwart gerät leicht aus dem Blick, dass technische Neuerungen zunächst einmal mit einem Gewinn von Zeit einhergehen, sei es in der Produktion, in der Kommunikation oder im Verkehr. Zeitverlust und Zeitgewinn sind demzufolge relative Zuschreibungen. Denn dort, wo durch technologischen Fortschritt Zeit gewonnen wird, ist mit wachsenden systemischen Anforderungen und sich erweiternden Möglichkeiten zumeist auch schon der Zeitverlust impliziert.[1]

Eine Schule der Zeit

Im Kontext der Schule zeigt sich das Zeitregime in einem frühen Tagesbeginn, dem nach Geburtsjahr organisierten Klassensystem und allgemein in dem Zeitdruck unter dem praktisch jede schulische Aktivität steht. Auch die schnelle und nahtlose Abfolge der getrennten Wissensgebiete ist Ausdruck industrieller Logik. Dies erzeugt bereits bei den jüngsten Schulkindern ein Gefühl der Fremdbestimmtheit und die Erfahrung, ständig gegen die Zeit ankämpfen zu müssen. Dabei ist Zeit ein Abstraktum, das nicht notwendigerweise durch seine Verknappung gekennzeichnet sein muss.

Kinder und Jugendliche müssen ihre Zeit in der Schule nicht unbedingt als etwas von außen Auferlegtes erleben, bei dem eigene Wege, Interessen und Zeitbedürfnisse keinen Platz zu haben scheinen. Abweichungen, Umwege und Fehler sollten nicht einfach sanktioniert und stattdessen für spezifische Erfahrungen und Lernprozesse genutzt werden. Ein entdeckendes, selbstverantwortliches und soziales Lernen braucht vor allem eines: Zeit.

Die Pandemie hat nicht nur Schwächen unseres Schulsystems aufgezeigt, es wurde uns ebenso bewusst, dass niemand die Krisen unserer Zeit wirklich voraussagen kann. Diese Unsicherheit trifft die Schule aber auf eine noch tiefgreifendere Weise. Schulbildung war traditionell als Vorbereitung auf ein ökonomisch unabhängiges Leben gedacht. Sich Mühe zu geben und einen guten Abschluss zu machen war mit dem Versprechen verbunden, einen attraktiven Beruf zu ergreifen, der das gesamte Erwerbsleben hindurch Bestand haben konnte. Die heutige Arbeitswelt hat damit nicht mehr viel zu tun, sie ist von Umbrüchen und dem Auf- und Abstieg ganzer Industrien geprägt. Niemand kann sicher sagen, wofür die Schule eigentlich bilden soll und wie die Arbeitswelt in Zukunft aussehen wird. Kinder, die heute eingeschult werden, gehen erst in ca. 60 Jahren in Pension. Prognosen sind hier unmöglich.[2]

Latenz und Resonanz

Um in der zukünftigen Gesellschaft bestehen zu können, wird es auch darauf ankommen, dass Kinder ihre natürliche Neugier auf ein breit gefächertes Erfahrungsspektrum richten können und dabei ihre schöpferischen Potenziale erproben und entwickeln. Als zentrale Kompetenzen für das 21. Jahrhundert werden oft Kreativität, Kooperation, Kommunikation und kritisches Denken genannt. Entsprechende Kompetenzen müssen sich aber auch entwickeln können und brauchen zeitliche und gedankliche Freiräume. Wissenskulturen sind notwendigerweise immer auch mit Latenz verbunden, mit der Möglichkeit, sich Dinge tatsächlich anzuverwandeln.[3] Die zeitliche Selbstbestimmung ist hierbei ein wesentlicher Faktor, um Resonanz und damit ein neues Weltverhältnis herzustellen und so letztlich auch einem Anspruch auf Sinnerfüllung und Glück gerecht werden zu können.

Wie würde sich Bildung also verändern, wenn Kindern in der Schule eine individuelle und soziale Zeit zur Verfügung stünde? Eine Zeit zum ganzheitlichen und thematisch vielfältigen Entdecken, Erforschen und Erfinden – ein bedingungsloses Zeiteinkommen.


Quellen:

[1] Vgl. Rosa, Hartmut: Bewegung und Bewahrung in modernen Gesellschaften. In: Kritisches Jahrbuch der Philosophie, 2008, S. 3-21.

[2] Vgl. Robinson, Ken: Schools kill creativity, 2008.

[3] Vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz, 2019.