Mit den Muscheln um die Welt

Kapitel 1: in dem ich Bekanntschaft mit den Muscheln mache 

Muschel Signet oder Icon

Ende März und 26 Grad. Temperaturen, von denen Deutschland zu so einer Zeit nur träumen kann. Meine Füße verschwinden im Sand und die Meeresluft weht entspannt über den Strand. Vor mir erstreckt sich die Praia dos Estudantes. Orange-goldene Felsen ragen heraus, eine kleine Steinbrücke verbindet zwei dieser Steinmassen und so formt sich ein Tor, eine Öffnung zum kristallklaren Ozean. Ich befinde mich in Lagos, Portugal, 2.931 Km von zu Hause entfernt. Bevor es zurück in den öden Alltag geht, benötige ich noch Souvenirs für meine Familie. Da muss ich gar nicht lange nachdenken. Zwischen Land und Meer finde ich das perfekte Geschenk. Muscheln. Sie sind feucht und glänzen in der prahlenden Sonne. Kleine Schätze des Ozeans. Für einen kurzen Moment überlege ich auszuwandern und das Muschelsammeln in Portugal zum Beruf zu machen. Meine Freundin ruft mich, sie will weiterziehen. Wenigstens in diesem Urlaub streiten wir uns mal nicht. Beim Spazieren schaue ich mir die Muscheln in meiner Hand nochmal genauer an. So besonders sind sie wohl nicht, denn vor meinen Füßen liegen tausende ähnliche Exemplare. Ein nettes Geschenk, das aber am Ende, nichts aussagt …

Kapitel 2: in dem ich mich geirrt habe und Muscheln doch was zu sagen haben

In der Geschichte der Menschheit besaßen Muscheln eine signifikante religiöse und kulturelle Rolle. Im alten Ägypten und bei den Karthager trug man sie als Schmuck, um sich vor dem Bösen zu schützen. Mit dem Tod eines Menschen legte man die Muscheln in das Grab, um sie im Jenseits weiter zu schützen. Außer den Inhalt der Muscheln zu verzehren, benutzte man sie des Weiteren, um andere Materialien herzustellen, für dekorative und industrielle Zwecke, für das Färben von Textilien und sogar als Währung. 

Als Währung waren die Kauris Muscheln besonders in Westafrika sehr beliebt, da sie klein genug waren, um sie gut tragen, zählen und sammeln zu können. Die Europäer nutzten diese Besessenheit von Muscheln aus, um zu verhandeln. Zum Beispiel importierten die Portugiesen maledivische Kaurimuscheln ein und bekamen in Tausch dafür Sklaven, Gold und weitere Güter. Die Kaurimuschel war für die Einheimischen mehr als nur Währung. Man trug sie als Schmuck um den Körper oder im Haar, pflegte sie in Masken ein, nutzte sie in Zeremonien und verteilte sie auf dem Friedhof. Heutzutage wird die Kaurimuschel nicht mehr als Währung benutzt, besitzt aber wie zuvor einen enormen kulturellen, traditionellen und religiösen Wert. In Ghana ist die Kaurimuschel z. B. auf Münzen gedruckt. 

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So klein ist die Muschel und doch so viel hat sie miterlebt. Das ist den Meisten gar nicht bewusst. Nicht nur Land bereist sie, sondern auch Zeit. Ende des 1800 Jahrhundert fand man in Trinil, Java, uralte abstrakte Gravuren auf einer Muschel. Wie sich herausstellte, war es das Werk eines Homo Erectus, ein direkter Vorfahre des Menschen. Die Muschel ist ca. 500.000 Jahre alt. Um die gleiche Zeit ist der Homo Erectus nach Asien gewandert. Wissenschaftler sind sich sicher, dass die Einkerbungen absichtlich eingeritzt wurden, wieso ist aber unklar. Revier-Markierung, Kunst oder Zeitvertrieb? Die Wissenschaftler werden wohl ewig rätseln, doch eins ist klar: Das ist Kommunikation. Vor 500.000 Jahren gab es irgendjemanden auf der anderen Seite der Welt, der mithilfe einer Muschel etwas sagen wollte. 

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Kapitel 3: in dem Alles irgendwie doch Sinn ergibt

Ich bestaune die Muscheln in meiner Hand. Ob sie auch so alt sind? Ob sie auch schonmal verschenkt wurden? Und wenn ja, wieso sind sie wieder hier? Meine Freundin sammelt nun auch friedlich Muscheln und obwohl wir nicht reden, verstehen wir uns. Sie lächelt mich an. Ich sammle eine weitere Muschel. Sie ist orange mit einigen Blautönen und riecht nach Salz. Diese will ich aber nicht verschenken. Sie ist nur für uns. Wenn ich zurück in den einengenden Alltag und das kalte Wetter gehe, werden mich diese Muscheln daran erinnern, wie weit und lang sie gereist sind, wie viele Menschen sie schon begleitet haben. Ich finde es tröstend, dass sie mich jetzt auch begleiten.

Irgendwo da draußen strahlt die Sonne, die Welt öffnet sich und die Freiheit weht wie ein leichter Wind durchs Haar. Irgendwo da draußen finden zwei Menschen wieder zusammen. Irgendwo da draußen sammelt jemand gerade Muscheln. All das ist schwer in Worte zu fassen, deswegen überlasse ich den Muscheln das Erzählen.

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Quellen:

  • Belief Agency (2019): Charged Objects | You Are a Storyteller, [Youtube-Video]. In: https://youtu.be/1mHbAE4WaR0(abgerufen am 18.04.2023)
  • Bergeron, Marianne (2011): Death, gender and sea shells in Carthage, in: Pallas, The Gods of Small Things. N. 86, S.169-189, Toulouse, Frankreich  [online]. https://www.jstor.org/stable/43606690
  • Joordens, Josephine / D‘Errico, Francesco / Wesselingh, Frank (2015): Homo erectus at Trinil on Java used shells for tool production and engraving, in: Nature, B518, S. 228-244, [online]. doi:10.1038/nature13962
  • Saul, Mahir (2004): Money in Colonial Transition: Cowries and Francs in West Africa, In: American Anthropologist, B. 106, N.1, S. 71-84, [online]. doi.org/10.1525/aa.2004.106.1.71

(Stand:18.04.2023)



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