Brieftauben – un|geschätzte Helfer
ein Beitrag von Annemarie Weise
Wie jeden Morgen begebe ich mich auf den alltäglichen Gang zu den Briefkästen. 55 Stufen, sieben Mal nach links, drei Stockwerke nach unten. Mein noch müdes Gesicht versucht mich freundlich aus den Reflektionen der goldenen, doch auch nach sechs Jahren belebten Aus- und Eingehens im Haus zerkratzten Briefkästen anzulächeln. Ich zücke meine Schlüssel aus der Tasche meiner Jogginghose, öffne unseren Briefkasten und entnehme den Stapel, der mir fast entgegenfällt. Werbung, Werbung, Werbung in Briefform, Brief von der Krankenkasse, Brief von der… Hausverwaltung. Eine Verwarnung. Leicht aufgeregt haste ich wieder die 55 Stufen nach oben, sieben Mal nach rechts, drei Stockwerke hoch, schlüpfe durch den schmalen Spalt der Wohnungstür, den ich offen ließ und verschließe die Tür fix und ungesehen wieder hinter mir. Schnell öffne ich den Brief der Hausverwaltung:
Ihnen sei zur Kenntnis gekommen, dass sich durch uns eine unsägliche Straftat auf unserem Balkon vollzog, die sofort zu unterlassen sei:
Das Füttern der Tauben.
Es gibt kaum ein Tier, welches die Meinungen der Menschen soweit auseinandertreibt wie die Taube: Früher und heute gezüchtet als schön anzusehendes Haustier, für Eier, Federn oder gar als Zutat für zarte Fleischgerichte; doch auch geächtet als Nervtöter, Dreckverursacher und als „Ratten der Lüfte“.
Aus dem heutigen Stadtbildern dieser Welt sind sie jedoch kaum weg zu denken. Zwischen Kirchturm und Einkaufspassage versuchen sie Nistplätze zu finden, bilden städtische Schwärme und versuchen den eifrigen und genervten Tritten der eilig vorbeigehenden Passanten und spielenden Kindern zu entweichen, während sie emsig vom dreckigen Boden picken, was ihnen die Menschen übrig lassen.
Navigationskünstler
Dabei war das Zusammenleben zwischen Mensch und Taube nicht immer mit so viel Wiedersprüchen und Argwohn verbunden. Denn Tauben sind wahre Orientierungs- und Navigationskünstler. Nahezu mühelos ist es ihnen möglich, aus weiter Entfernung den Weg zu ihren Partnern, ihrem Taubenschlag und Nistplätzen zurückzufinden. Und dazu kommt, dass Tauben in der Luft viel schneller sind als jeder Bote zu Lande.
Diese besonderen Fähigkeiten wurden von den Menschen bereits früh erkannt und daher begannen bereits 5000 v. Chr. die Menschen, Tauben zu domestizieren und ihren Orientierungssinn durch gezielte Züchtung noch weiter zu verstärken. Die aus dieser Zucht hervorgegangene Brieftaube wurde recht bald zum Dreh- und Angelpunkt der ersten Flugpost und gewann in den folgenden Jahrhunderten immer mehr an wirtschaftlicher, politischer und gar militärischer Bedeutsamkeit.
Gefiederte Boten
Bereits die Ägypter nutzten den außergewöhnlichen Orientierungssinn der Tauben, um Neuigkeiten über weite Distanzen hinweg schnell zu übermitteln. So wurde u.a. im ganzen Land die Nachricht um die Krönung des mächtigen Pharao Ramses II. in Memphis verkündet, indem Tauben freigelassen wurden, die sodann emsig ihren Weg zum heimischen Taubenschlag folgten. Ihre dortige Ankunft ließ die Anwohner wissen, dass es von nun an einen neuen König gab.
Im antiken Griechenland waren es ebenso Tauben, die wichtige Nachrichten nach Hause trugen. Mit Teilen des Zielbandes am Fuße ausgestattet, übermittelten sie u.a. die Nachricht über den Sieg eines Athleten bei den olympischen Spielen. Hier galten Tauben auch als besonders rein und als Boten des Friedens.
Die eigentliche Taubenpost – so wie wir sie heute kennen – wurde jedoch erst später eingeführt. Im antiken Rom etwa ab 200 v.Chr. hatten die Tauben vor allen Dingen eine militärische Aufgabe. Mit ihrer Hilfe konnten wichtige Nachrichten über Unruhen oder Belagerungen in den eroberten Gebieten überbracht und gar ganze Truppen aus der Ferne befehligt werden. Diese Botentauben ermöglichten es auch besetzten Truppen und ganze Städte mit ihren Verbündeten trotz der Belagerung weiter Kontakt und somit in diesen Kriesenzeiten die Stellung zu halten. Hierbei wurden die schriftlichen Nachrichten und direkten Befehle auf kleine Pergamente geschrieben und den Tauben am Fuß oder um die Brust geschnürrt. In China wurde auf Grundlage der Taubenpost sogar ein ganzes Postwesen aufgebaut.
Noch bis in die Industrialisierung hinein, war die Taubenpost der schnellste Weg, um wichtige Nachrichten zu überbringen. Besonders in London und Antwerpen nutzten Geschäftsleute Brieftauben, um Nachrichten über aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen aus ganz Europa zu erhalten. Banken hielten sich sogar eine Zeit lang eigene Kurstauben. Paul Julius Reuter nutzte 1850 Brieftauben sogar dafür, um auf der Telegrafenverbindung Paris – Königsberg Lücken im Telegrafennetz zwischen Brüssel und Aachen zu schließen. Denn die Tauben waren schneller als jede Postkutsche und sogar die Eisenbahn. So konnte er aus ganz Europa gesammelte Meldungen von Brüssel nach Aachen übermitteln und hatte dabei manchmal überdies einen Wissensvorsprung von mehreren Tagen. Doch der Einsatz von Brieftauben für wirtschaftliche Zwecke war nur von kurzer Dauer, da Mitte des 19. Jahrhunderts genügend Telegraflinien zur Verfügung standen.
Klicke und sieh‘ was passiert.
Helfer in der Not
Ihre Bedeutsamkeit für die Menschen verloren die gefiederten Boten trotz der Telegrafie noch lange nicht. Besonders in außergewöhnlichen Notsituationen erwies sich die Brieftaube als treuer und zuverlässiger Helfer. Als Paris 1870 – 1871 während des Deutsch-Französischen Krieges von den Deutschen belagert wurde, gelang es den Parisern mit Hilfe von Heißluftballons Tauben ins Umland auszufliegen. Diese Tauben brachten später tausende, sehr stark verkleinerte und auf hauchdünne Häutchen geschriebene Nachrichten nach Paris zurück. Diese sogenannten Pigeongramme, welche an den Federn oder den Füßen der Tauben befestigt wurden, ermöglichten es den Parisern während der Belagerung Kontakt nach Außen zu halten.
Wahre Helden
Auch im Ersten und im Zweiten Weltkrieg erwiesen sich Militärbrieftauben als treue Begleiter, Kameraden und Retter in der Not. Denn immer dann wenn alle anderen Kommunikationswege versagt hatten, waren die Tauben die allerletzte Möglichkeit, überhaupt Nachrichten und sogar Hilferufe zu empfangen oder zu versenden. Brieftauben lieferten sogar die ersten analogen „Drohnenaufnahmen“. Dabei wurden ihnen Kameras um die Brust gebunden, derren Aufnahmen wichtige Erkenntnisse über die Bodensituation lieferten. Alle kriegsbeteiligten Nationen setzten deshalb mobile Brieftaubenschläge ein und nahmen ihre gefiederten Boten zu Fuß, zu Pferd, zu Maultier, zu Rad oder mit dem Hund mit.
Selbst verletzt und unter den widrigsten Bedingungen konnten Tauben im Krieg ihren Weg zurück zum Taubenschlag finden und Leben retten. Die Geschichten heldenhafter Brieftauben wie Cher Ami, GI Joe oder Winkie zeigen, welche außerordentliche Bedeutung die Tauben für ihre zweibeinigen Kameraden hatten. Aus diesem Grund wurden auch 32 der insgesamt 53 im zweiten Weltkrieg verliehenen Dickin-Medaillen (einer Auszeichnung für Tiere mit besonderem Einsatz in Kriegszeiten) an Tauben verliehen.
Kaum zu fassen, was Brief-, Zucht- und Haustauben alles für die Menschen geleistet haben, oder? Noch heute erfreuen sich viele Taubenzüchter dem munteren Gurren der Tauben und lassen sie in länderweiten Weitflugwettkämpfen gegeneinander antreten. Zur geächteten Stadttaube werden dann all jene armen Kreaturen, welche dann doch den Weg einmal nicht nach Hause finden. Diese verirrten Geister suchen dann den Schutz des städtischen Schwarmes und werden so vom gehegten Haus- und Zuchttier zum Straßentier.
Ich für meinen Teil sehe keinen Grund darin, die Tauben auf unserem Balkon nicht mehr zu füttern. Verwarnung hin oder her. Und dem Bericht der Universität Darmstadt zufolge, ist auch der Taubenkot keineswegs schädlich für unsere Balkonmaterialien. (Glaubst du nicht? Dann lies‘ hier!)
Und falls du dich jetzt fragst, was du tun kannst, wenn du eine kranke oder verletzte Taube findest, dann gibt es hier weitere wichtige Infos:
Leipziger Stadttauben e.V.
Website: https://www.stadttauben-leipzig.de
Instagram: https://www.instagram.com/stadttauben.leipzig
Quellen
- Brieftauben: G.I. Joe und andere fliegende Helden – Bilder & Fotos – WELT (2016): DIE WELT, [online] https://www.welt.de. [abgerufen am 11.06.2023].
- Garhammer, Florian Garhammer – Ds (o. D.): Distanzflüge, [online] https://www.brieftaube.de. [abgerufen am 14.05.2023].
- Geschichte der Brieftaube – Brieftaube historisch (o. D.): Geschichte der Brieftaube – Historie der Brieftaube, [online] https://www.brieftauben-historiker.de/. [abgerufen am 12.06.2023].
- Institution, Smithsonian (o. D.): Kaiser | Smithsonian Institution, Smithsonian Institution, [online] https://www.si.edu/object/kaiser:nmah_435210. [abgerufen am 12.06.2023].
- Leipziger Stadttauben e.V. (o.D.): Über uns, Stadttaubenhilfe Leipzig, [online] https://www.stadttauben-leipzig.de/ueber-uns/ [abgerufen am 29.04.2023].
- Schmidlin, Rita (2017): Gurrende Kriegshelden, in: tierwelt.ch, 28.11.2017, [online] https://www.tierwelt.ch. [abgerufen am 10.06.2023].
- Werthmann, Carolin (2023): Wie eine Brieftaube im Ersten Weltkrieg knapp 200 Soldaten rettete, in: Süddeutsche.de, 22.01.2023, [online] https://www.sueddeutsche.de. [abgerufen am 10.06.2023].
- Wikimedia Foundation (o.D.): Taubenpost, Wikipedia, [online] de.wikipedia.org/wiki/Taubenpost [abgerufen am 20.04.2023].
- Wikimedia Foundation (o.D.): Brieftaube, Wikipedia, [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Brieftaube [abgerufen am 20.04.2023].