… mit herzlichen Grüßen aus dem Paradies
ein Beitrag von Tina Hesse
Nicht nur Kinder werfen mit Essen, wenn ihnen etwas nicht schmeckt. Auch Erwachsene greifen immer gern zu Lebensmitteln oder sogar zu Gegenständen, um ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen. Einige Leckereien scheinen dafür besonders prädestiniert zu sein. Ganz weit oben auf der Einkaufsliste des politischen Protests: die Tomate. Ihre Geschichte, Etymologie und Symbolfunktion als Wurfsendung wird im Folgenden dargestellt.
Vom tropezón zur Tomate
Im 15.Jh. entschieden sich Columbus und Co für eine bis dahin nie eingeschlagene Route auf dem Weg nach Indien. Doch statt eines kürzeren Seeweges traf man(n) auf eine ganz neue Landmasse – aus europäischer Perspektive, versteht sich. Die Vorstellung, dass am großen Ozean, dem Mar de tinieblas, die bekannte Welt, also die Orbis terrarum, endete und nichts als Ödland und Monstervölker dahinter anzutreffen seien, war auf europäischem Kontinent verbreitet. Manch andere*r weit ab von der Blase rund ums Mittelmeer, muss es längst gewusst haben: Da ist etwas, und zwar etwas anderes als Indien, Asien oder Afrika. Nun beschrieben aber auch die Europäer*innen, quasi als Bummelletzte, ihr Verhältnis zu diesem für sie „Neuem“. Im Oldschool-Jargon ist hier noch von der sog. „Entdeckung“ die Rede. Dabei gibt‘s ja noch viele andere spannende Perspektiven: Borges bezeichnete das Ganze als tropezón, also als ein „Stolpern“ über die amerikanischen Kontinente. O‘Gorman führte hingegen den Begriff der „Erfindung“ ein, denn dass das etwas „Neues“ und vollkommen Verschiedenes zur vermeintlichen „Alten Welt“ war, dass konnte man(n) sich nur in Europa ausgedacht haben… Wie auch immer wir es bezeichnen, in jedem Falle ist sicher: Menschen trafen auf einander, die sich zuvor noch nie begegnet waren und einiges an vorher Unbekanntem wurde übers große Meer geschippert. Und genau hier wird es interessant für Tomatenliebhaber*innen!
Tomate? – Das ist Nahuatl!
Schieben wir nicht immer alles Columbus in die alten Ledersandalen. Da wo er sich aufhielt, in der Karibik, gab es sie vermutlich gar nicht. Die Tomate kommt ursprünglich aus einer bergigen Region, den peruanischen Anden und auch aus dem mexikanischem Hochland, wo die Aztek*innen sie anbauten.
Um das nachzuweisen muss niemand im Dreck nach versteinerten Samen kratzen. Schon allein das Wort „Tomate“ gibt uns Hinweise auf die Herkunft der Frucht. Dafür werfen wir mal einen kurzen Blick ins etymologische Wörterbuch, in das DWDS, und erfahren: Die Tomate, noch bis zum 18. Jh. in Deutschland als eine Zierpflanze mit dem Namen „Liebapfel“ oder „Paradiesapfel“ bekannt – ein inter-essanter Aspekt, auf den wir später noch einmal zurückkommen werden – wird später nach dem französischem Vorbild, tomate, auch in Deutschland so bezeich-net. Die französischen und spanischen Lexeme (le tomate und/oder el tomate) sind jedoch sog. Entlehnungen des Wortes tomatl, der ursprünglichen Bezeichnung der Frucht in der aztekischen Sprache, Náhuatl, die noch heute von vielen indigenen Gruppen in Mexiko gesprochen wird. Tomatl wiederum ist ein Kompositum des Wortes tomohuac, das Frucht bedeutet, atl, dem Náhuatl-Wort für Wasser. Somit bedeutet das Lexem tomatl eigentlich: Wasserfrucht, oder Frucht aus Wasser. Im mexikanischen Spanisch werden sogar noch weitere Differenzierungen getroffen: In einigen Regionen bezeichnet tomate rojo, also „rote Wasserfrucht“, das beliebte Fruchtgemüse. In anderen Landesteilen wird der Begriff „jitomate“ verwendet, der das Wort xictli, Náhuatl für Bauch, enthält. Dort ist die Tomate also die bauchige Wasserfrucht – oder die Frucht mit dem Wasserbauch? Insofern es aber heute zwischen 8000 und 10.000 Tomatensorten gibt, wird es sicherlich noch viele weitere Bezeichnungen geben. Botanisch ist die Tomate übrigens als Nachtschattengewächs mit der Kartoffel verwandt, die ebenfalls von den amerikanischen Kontinenten nach Europa gebracht wurde. Apropos, wie ging es eigentlich weiter mit der Tomate?
Die Tomate macht sich b(e)reit
Die Tomate kam also nach Europa, vermutlich durch Cortés, der sie nach der „Eroberung“ Mexikos nach Spanien mitgebracht haben soll. Eine erste Erwähnung und genauere Beschreibung des Fruchtgemüses erfolgte allerdings durch einen Italiener, dem Arzt und Botaniker Pietro Andrea Mattioli (auch Matthiolus) in den Jahren 1544 und 1554. Dieser bezeichnete die ihm vorliegenden gelben Exemplare auch erstmalig italienisch, als pomi d’oro, zu Deutsch „goldene Äpfel“. Von Italien nach Spanien kam die Tomate übrigens über die spanischen Besitztümer Sardinien und Neapel. So soll der spanische Vizekönig von Neapel, Pedro de Toledo, den toskanischen Großherzog Cosimo 1548 mit einen Korb voll Tomaten beschenkt haben. Von da an tummelte sich die „rote Wasserfrucht“ in den Kreisen der Gräf*innen, Herzog*innen und ähnlich Betuchten als Zierpflanze und exotische Kulturpflanze. Jedoch nicht als Nahrungsmittel, wohl gemerkt! Es sollten noch 300 Jahre vergehen, bis die Tomate als Nahrungsmittel angesehen wurde. Denn durch ihre Ähnlichkeit zu einheimischen Nachtschattengewächsen, etwa der Tollkirsche und Alraune, hielt man sie lange für giftig, aber interessanterweise auch für aphro-disierend, womit wir wieder bei der Bezeichnung poma amoris, Liebesapfel, wären. Als dann unter dem Einfluss der Entwicklungen der Medizin im 17. Jh. das Essen von Gemüse „salonfähig“ wurde, erschien auch die Tomate endlich auf dem Speiseplan. So breitete sie sich im 18. Jh. in Italien, Spanien und anderen Euro-päischen Ländern stark aus, und dürfte spätestens ab dem 19. Jh. bei allen Bevölkerungsschichten auf dem Küchentisch gelegen haben.
Rot und rund – ein starkes Zeichen!
Vielleicht fragt ihr Leser*innen euch jetzt: „Es soll doch ums Tomaten-Werfen gehen! Warum so ein langes Bla-Bla über die Tomatengeschichte?“ Nun ja, immer mit der Ruhe, und alles in geordneter Reihenfolge! Denn wir haben ja nun erfahren: die Tomate, sie war schon so vieles!
Bei den Aztek*innen war sie eine wohl schmeckende und nährende Frucht voll Wasser. Vielleicht stand sie noch für Gesundheit, Fruchtbarkeit oder Reichtum? Darüber hinaus war die Tomate ein Mitbringsel aus fernen, unbekannten Landen. Sie war also auch eine Botschaftenüberbringerin, insofern mit ihr die Sprache der Nahua in alle Winde getragen wurde, und bis heute in den Sprachen konserviert ist, in denen der Náhuatl-Wortstamm fortlebt. Bei den europäischen Durchlauchten wurde sie dann zu einem Symbol für Wohlstand, Besitz und Ausdruck ihrer Neigungen zum Exotischen. Eine teure und seltene Frucht, ein wahrhaftiger „Goldapfel“! Und auch das kommt bis heute in manchen Sprachen zum Ausdruck, z.B. im Polnischen pomidor oder Usbekischem pamildori.
Zu guter letzt war die Tomate auch lange Zeit einegiftige, gefährliche, mitunter tödliche, aber gleichzeitig geheimnisvolle, und sogar betörend Frucht, ein „Liebes-apfel“. Genau: Das kennt wir doch von den zwei Nackten mit der Schlangenstory! Die Tomate steht als auch für das Paradies oder symbolisiert eine „Herkunft aus dem Paradies“. Nicht umsonst nennen Österreicher*innen das Fruchtgemüse deshalb Paradieser. Und wo das Paradies ist, da geht es auch immer um Verführung, ein Wort, zudem etymologisch eine Verwandtschaft zum mittelhochdeutschen „vüeren“ besteht, das „in Bewegung setzen, treiben, fortschaffen“ meint. Wo Verführung ist, kann also auch ein Fortgang, eine Entwicklung, in jedem Falle eine Gerichtetheit auf etwas Neues sein. Und hier lasst uns endlich zum Wesentlichen kommen: zum Tomaten-Werfen!
Jetzt auch das noch: Tomaten werfen!
Die Frage ist ja die: Warum werfen Menschen ausgerechnet mit Tomaten? Und nicht mit Gurken, Auberginen oder Erdbeeren? Aber gehen wir noch einen kleinen Schritt zurück: Wer bzw. in welchen Situationen werfen Menschen überhaupt Tomaten? Es gibt ja sogar ein richtiges Tomaten-Werf-Fest, die Tomatina, im spanischen Buñol. An den genauen Ursprung des Ganzes erinnern nur Legenden, die sich aber allesamt um dasselbe Motiv drehen – die Unzufriedenheit über eine Situation findet Ausdruck im Werfen einer Tomate auf ein oder mehrere Gegenüber. Und das hat auch im Raum des Politischen Tradition: Ob Evita, Hilary Clinton oder Alexander Dobrinth – vielen Personen aus dem öffentlichen Leben kam schon eine Tomate entgegen. Oft sind auch Neonazis beliebte Ziele von Tomatenwerfer*innen. 1968 soll sogar ein Tomatenwurf einer Studierenden die zweite Welle der Frauenbewegung ausgelöst haben. Und auch kürzlich wurde die Tomate wieder als Wurfsendung eingesetzt, und zwar in Suppenform verteilt auf Van Goghs Sonnenblumen durch Klimaprotestler*innen von Just stop oil! Dass die Tomate als Wurfsendung beliebt ist, sollte deutlich geworden sein. Aber nun noch einmal: Warum Tomaten? Und was ließe sich aus ihrem Gebrauch als Wurfgeschosse ableiten?
Mir scheint, eine Tomate zu werfen, bringt zunächst stofflich bzw. physikalisch mehrere Vorteile mit sich. Sie ist leicht, passt in jede Tasche, liegt gut in der Hand und kann auch aus einiger Distanz geworfen werden. Ihr typisches Signal-Rot ist weithin sichtbar – gut möglich, dass selbst das Zielobjekt die Frucht noch vor dem Volltreffer erkennt, so dass noch eine Ausweichmöglichkeit besteht. Die Tomate ist damit ein faires Wurfobjekt. Und anders als ein Stein birgt sie eine geringe Verletzungsgefahr. Wer einen Stein wirft, der*die kalkuliert einen beträchtlichen Schaden an der Person mit ein. Ein Tomatenwurf kann weh tun, hinterlässt aber vor allem Flecken. Auch dies ist ein Vorteil für die protestierenden Werfer*innen: die Getroffenen sind beschäftigt, etwa mit der Reinigung der Kleidung, folglich zur Unterbrechung der Verfolgung ihren politischen Ziele gezwungen. Dennoch ist Tomatensaft abwaschbar und ungiftig, zumindest für Histamintolerante. Sollte also eine Benetzung des Mundes erfolgen – keine Problem, und eigentlich sogar gesund – ganz im Gegensatz zu einem Tortenwurf.
Kommen wir aber nun abschließend auf die Symbolebene zu sprechen: Wir erinnern uns, der Begriff Tomate wurzelt im Nahuatl. Die Etymologie einer indigenen Sprache hat sich also hartnäckig in der Frucht erhalten, über Raum und Zeit hinweg. Wir könnten also schließen: Der Tomate wohnt etwas Widerspenstiges inne! Sie mag kein klassisches Widerstandssymbol sein, aber trägt dennoch, zumindest sprachlich, einen solchen Kern in sich. Zudem galt die Tomate als Symbol für Reichtum und das Paradiesische und wurde, wie schon erwähnt, Liebapfel genannt. Vielleicht könnten wir auch so einen Tomatenwurf deuten: „Kommt ins Paradies! Von dort, wo die Tomate (geflogen) kommt, da wartet etwas Besseres auf euch! Lasst euch verführen!“ Oder: „Wir, als Tomatenwerfer*innen, haben eine andere, bessere Vorstellung von der Welt…“ In diesem Sinne trägt die Tomate als Wurfsendung auch etwas Utopisches mit sich! Aber Obacht: Laut §185 des StGB könnte ein Tomatenwurf als sog. „tätliche Beleidigung“ verurteilt werden, die wiederum mit einer Freiheitsstraße von bis zu zwei Jahren oder einer saftigen Geldstrafe geahndet werden kann. Eine Beratung bei eine*r Anwältin wäre also der Anwendung einer Wurfsendungen ratsam;)
Quellen & Verweise
- Christmann, Karin (2011): Demonstrant attackiert Dobrindt mit Tomate, in spiegel.de
- Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Begriff Tomate, dwds.de
- Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Begriff „verführen“, dwds.de
- Hertrampf, Susanne (2008): Ein Tomatenwurf und seine Folgen. Eine neue Welle des Frauenprotestes in der BRD, bpb.de
- IDL: Wie sagt man Tomate in verschiedenen Sprachen?, indifferentlanguages. com
- LEX superior GmbH (o.D.): tätliche Beleidung Definition zu §185, gesetze.io
- Jacomet, Stephanie (2011): Die Geschichte der Tomate, Universität Basel
- Klitzsch, Marcel (2022): La Tomatina – das Tomatenfest in Spanien & spektakuläre Fakten, tomaten.de
- Mohammed, Arshad (2012): Egyptians pelt Clinton motorcade with tomatoes, in: reuters.com
- O‘Gorman, Edmundo (2006): La invención de América: investigación acerca de la estructura histórica del nuevo mundo y del sentido de su devenir. 4. Edición, México: Fondo de cult. Económica.
- Servicio de Información Agroalimentaria y Pesquera (2017): Tomate rojo o jitomate: ¿cómo lo llaman donde radicas?, gob.mx
- Huber, T. (2010): Wurf Richtung Neonazis: 1800 Euro für 2 Tomaten, abendzeitung-muenchen.de
- Wenger, Brigitte (2022): Eine saftige Protestaktion. Warum der Kommunist Hansjörg Hofer vor 75 Jahren in Bern eine Tomate nach Evita Perón warf, zeit.de
- tagesschau (2022): Van-Gogh-Gemälde mit Suppe überschüttet, tagesschau.de