Original Leipziger Lerche

Fundstücke 1000 Jahre Leipzig

Original Leipziger Lerche
105 × 67 × 44 mm
Vogel
Fundort: Richterstraße, Leipzig
Funddatum: 3. Mai 2015

Das Gebäck »Leipziger Lerche«ist im sächsischen Raum bekannt. Welche Geschichte steckt hinter dieser Spezialität und was hat sie mit einem Singvogel zu tun? 

Um am Sonntagmorgen Brötchen für ein ausgiebiges Frühstück zu bekommen, muss ich im Leipziger Norden nicht weit laufen. An der Gohliser Straße reihen sich verschiedene Bäcker aneinander und bewerben durch auffällige Reklame ihre Backkünste, um die müden Brötchensuchenden hereinzulocken. Doch da bekanntlich Brötchen nicht gleich Brötchen sind, begebe ich mich gerne auf einen etwas ausführlicheren Spaziergang, um meine Lieblingsbäckerei zu erreichen, die für die beste Grundlage eines genüsslichen Frühstücks sorgt. Die handwerkliche, traditionsbewusste Familienbäckerei in dritter Generation verkauft nicht nur eine Auswahl an Brötchen, Brot und Kuchen, sondern bewirbt vor allem ihre Backspezialität: die Original Leipziger Lerche. Fragt man Leipziger-Lerchen-Liebhaber, wo denn die besten dieser Art zu kaufen sind, wird einem meist die Filiale im Stadtzentrum empfohlen, in dessen Schaufenster die ‚Original Leipziger Lerchen‘ einladend angepriesen werden.

Als ich am ersten Mai-Wochenende diesen Jahres wie gewohnt Brötchen holen ging, strahlten mich auch in der Filiale in der Gohliser Straße die frischen Leipziger Lerchen an. Neben den Frühstücksbrötchen ließ ich mir zwei einpacken und machte mich auf den Weg nach Hause. Während ich durch die ruhigen Straßen lief, las ich das beigelegte kleine Informationsblatt des Bäckers zur Geschichte der Leipziger Lerche. So erfuhr ich, dass die Feldlerche im 18. und 19. Jahrhundert eine herzhafte Spezialität in Sachsen war: zunächst gerupft, anschließend gefüllt und gebraten. Während ich darüber nachdachte, wie sich dieses sächsische Traditionsgericht zu einem süßen Gebäck entwickeln konnte, entdeckte ich auf einmal am Straßenrand einen kleinen toten Singvogel, der mit angelegten Flügeln erstarrt am Boden lag. Ich legte ihn behutsam in ein Taschentuch und steckte ihn ein.

Zwar ist der gefundene Vogel keine Feldlerche, sondern eher ein Haussperling, doch gab mir dieses Fundstück den Anlass, mich genauer mit der Geschichte der »Original Leipziger Lerche« zu befassen.

Im »Leipziger Kochbuch von 1745« fand ich das Rezept der gefüllten Lerche. Susanna Eger, eine 1640 geborene, lokal bekannte Berufsköchin, schrieb dieses umfangreiche Kochbuch über die sächsische Küche, welches zum ersten Mal 1706 erschien:
»Von allerhand Gebratenen. S. 161 f.    357. Lerchen gefüllt.
Wenn die Lerchen gerupft, so blase sie an dem Halse mit einem Feder=Kiel aus, nimm frischen Speck, Hüner=Lebern, Ingber, Pfeffer, Muskaten=blumen, ein wenig Salz, hacke es untereinander, thue Butter in einem Pfännlein zum Feuer, rühre die Fülle darein, nebst einem Euer=Dotter. Siehe, daß die Fülle nicht zu dicke werde. Thue es bey dem Halse durch ein klein Trichterlein ein, salze sie, und binde sie in Lorbeer=Blätter, stecke sie an, brate sie fein gemach, das sie nicht aufspringen, begiesse sie mit zerlassener Butter.«
Die aktuelle Auflage wurde 2005 herausgegeben und enthält ebenfalls noch das Originalrezept. Doch würde sich heute noch jemand kochbegeistert an einem gefüllten Singvogel versuchen?

Heutzutage wird die entscheidende Zutat in Deutschland wohl kaum zu finden sein, da die Jagd auf Feldlerchen schon lange verboten ist. Im 18. Jahrhundert gehörte der Fang des Singvogels zum Alltag. Im 18. Jahrhundert wurden allein in einem Herbstmonat fast eine halbe Millionen Feldlerchen gefangen.
Der Autor H. Zimmermann schildert in der ‚Nerthus – illustrierte Wochenschrift für Tier- und Pflanzenfreunde‘ den Jagdvorgang des Lerchenfangs:
»Lange schon sehnte ich mich danach dem hier im Süden betriebenen als so grausam verschrieenen «Vogelfange» beizuwohnen. Endlich wurde mein heisser Wunsch erfüllt, und mit Freuden begrüsste ich die Einladung eines alten Vogelstellers zum morgigen Lerchenfang. […]
In einer halbverfallenen Ruine eines kleinen Stalles, dessen Dach jetzt eine einfache Strohmatte bildete, sass mein Vogelsteller und lockte mit seiner Pfeife, die er musterhaft zu führen verstand, gerade einen Schwarm Lerchen an. In weitem Bogen umschwärmten sie zuerst das Feld, um dann, von dem Gezwitscher der bereits gefangenen angezogen, einzufallen und auf den »Leim« zu gehen. […]
Rings um diese Hütte sind in kürzerer und weiterer Entfernung die Vogelstangen errichtet. Dieselben bestehen aus ca. 2 – 2 ½ m langen, kräftigen Pfählen, in denen oben zwei etwa 30 cm lange Zweige eingesetzt sind. Am Grunde dieser Zweige befindet sich eine Einkerbung, in welche die Leimrute gesteckt wird, so dass dieselbe fast mit dem Zweige parallel liegt. Setzt sich nun ein Vogel auf den Zweig oder die Leimrute selbst, so muss er mit den Flügeln die Rute berühren und fällt dann mit zusammengeklebten Federn und der Rute unter den Flügeln zu Boden, wo er sich erst recht durch den Leim derartig verklebt, dass er oft kein Glied und keine Feder mehr rühren kann.«

Diese Erzählung ähnelt der Beschreibung der Tierschützer des Komitees gegen den Vogelmord e.V. (CABS), dessen Website vom heutigen Vogelfang im Südwesten Frankreichs berichtet. Neben der Jagd mit der Flinte, mit Fangkäfigen und mit Netzen ist in Frankreich der eben geschilderte Einsatz von Leimruten gestattet. Insgesamt ist zwar offiziell die Jagd auf Singvögel mit Leimruten auf 20 Stück pro Jahr beschränkt, doch ist es den Jägern erlaubt, eine Millionen Feldlerchen pro Jahr durch den Gebrauch von Netzen zu fangen.

Für das damalige Königreich Sachsen verbot König Albert I. 1876 den Lerchenfang. Stimmen von Tierfreunden und entsetzten Bürgern waren laut geworden, den Singvogel nicht für ein kurzes Genusserlebnis in dem Ausmaß töten zu dürfen. »Unsere Feldlerche, dieser harmlose Vogel, welcher jedes menschliche Herz als erster Frühlingsboote nach langem, kaltem, schneereichen Winter durch seinen herrlichen Gesang begrüsst und entzückt, und welcher im Erheben zu dem jetzt neu belebenden und alles Irdische zu frischer Kraft entfaltenden Sonnenkörper sein himmlisches Liedchen singt; dieser wunderbare Sänger der Lüfte […].« (JfO, S. 68).
Im Journal für Ornithologie, 1876 im Springer Verlag publiziert, kritisiert ein Autor die Gründe des Lerchenfangs:
»Wenn ein Feinschmecker unser gesammtes in Deutschland einheimisches Flugwild durchkosten und sein Urtheil abgeben soll, welches das feinste und wohlschmeckendste unter demselben ist, so wird es ihm in der That nicht schwer werden, […] dass unsere Waldschnepfe […] und unsere Feldlerche […] die grössten Leckerbissen sind, welche uns die producierende Naturkraft in die Jagd liefert. Kein Wunder, dass deshalb auch beide Vogelarten von jeher verfolgt worden sind und ihnen auch ferner auf’s eifrigste nachgestellt werden wird, so lange sie noch auf unserer Erde neben dem in Genusssucht unersättlichen Menschen existieren werden; denn sie werden nur des Genusses und des dadurch erwachsenen Gewinne wegen so eifrig verfolgt.« (JfO, S. 67) Laut Autor geschähe der Lerchenfang »[…] nur um des lieben Gewinnes wegen, ohne Ueberlegung und Nachdenken, dass durch solche unverantwortliche Massenvertilgung diese reizenden Geschöpfe endlich von der Erde ganz verschwinden müssen, […].« (JfO, S. 67).

Somit musste sich das beliebte Gericht der gebratenen Lerchen von den Speisekarten verabschieden.

Heute berichten einige Internetwebsites von klugen Leipziger Konditoren, die es sich zur Aufgabe machen, einen köstlichen Ersatz für den Singvogel zu kreieren, um den Feinschmeckern etwas bieten zu können. So entstand die kleine Mürbeteig-Marzipan-Pastete.
Mit der neuen ‚Original Leipziger Lerche‘ haben die Leipziger Konditoren eine zuckersüße Entschädigung erschaffen, welche bis heute in bekannten Bäckereien und Cafés als Leipziger Spezialität verkauft wird. Mit dem Verzehr dieses Gebäcks genießt man eine faustgroße Marzipankugel mit unermesslicher Kalorienmächtigkeit, gebettet auf einem hauchdünnen fruchtigen, äußerst schüchternen Marmeladenschichtchen, umhüllt von festem, aber feinem Mürbeteig in Form eines Törtchens, dessen Größe dem Ausmaß an gehaltvollem Inhalt nur entfernt gerecht wird. Dieser Gaumenschmaus lässt sich durchaus empfehlen, jedem, der die Wucht des Marzipans zu erleben wünscht, doch wird er nach dem Verzehr gänzlich auf das Abendbrot verzichten. Die gekreuzten Teigstreifen auf der Oberseite sind wohl das einzige Merkmal, welches an die früheren gefüllten und zugebundenen Singvögel erinnern könnte.

Wer sich selbst am Rezept der Leipziger Lerchen versuchen möchte, findet in Backbüchern sowie im Internet zahlreiche Varianten, zum Beispiel mit Pistazien oder mit Kakao. In „Das Backbuch“, 1967 im Verlag für die Frau erschienen, wird folgendes Rezept empfohlen:
»Mürbeteig: 250 g Mehl, 1 Ei, 125 g Margarine, 65 g Zucker, Salz 1 Päckchen Vanillinzucker oder ½ Teelöffel abgeriebene Zitronenschale oder 3 bis 4 geriebene bittere Mandeln.
Alle Zutaten rasch, aber sehr gründlich untereinanderkneten und den Teig sofort für mindestens 30 Minuten kalt gestellt rasten lassen. […]
Leipziger Lerchen: Erdbeer- oder Himbeerkonfitüre, 80 g Margarine, 125 g Zucker, Salz, 2 Eier, 100 g Mehl, 125 g gehackte süße Mandeln, Nüsse oder Kokosraspel, 5 geriebene Bittermandeln, etwa 4 Eßlöffel Milch, 3 Eßlöffel Rum oder Weinbrand.
Leicht gefettete Förmchen mit dünn ausgerolltem Mürbeteig auslegen und jeweils einen Klecks Konfitüre daraufgeben. Die schaumig gerührte Margarine mit allen Zutaten (1 Eigelb zurückbehalten) vermengen. Die Masse in die Förmchen füllen, obenauf kreuzweise zwei schmale, abgerädelte Teigstreifen legen und mit dem verquirlten Eigelb bepinseln. Bei Mittelhitze etwa 25 Minuten backen.«

Durch solch ein Rezept haben Koch- und Backbegeisterte einen vielversprechenden Ersatz für die ehemalige Leipziger Lerche gefunden und können die Singvögel weiter singen lassen.

Es ist zu hoffen, dass sich zumindest der seit langem verbotene Lerchenfang im sächsischen Raum positiv auf den Erhalt dieser Vogelart auswirkt.
Der NABU (Naturschutzbund) zählt heute in Europa einen Feldlerchenbestand von bis zu 80 Millionen Brutpaaren, in Deutschland werden zwischen 1,6 und 2,7 Millionen Brutpaare geschätzt. Seit den 70er Jahren wird die Feldlerche immer seltener. Es wird von einem Bestandsrückgang von zum Teil 50 bis zu 90 % gesprochen. Gründe dafür sollen unter anderem die zunehmende Landwirtschaft, der Einsatz von Umweltchemikalien sowie die direkte Bejagung sein. Aufgrund der akuten Gefährdung steht die Feldlerche auf der Vorwarnliste der Roten Liste Deutschlands der bedrohten Vogelarten.

Nähme man sich die Geschichte der Leipziger Lerche als Vorbild, könnte mit ein wenig Phantasie die Möglichkeit entstehen, dass Köche und Konditoren aus einigen traditionellen Fleischgerichten ein paar mehr süße Backwaren zaubern.
Kochbuch von 1745
H. Zimmermann in Nerthus – ill. Wochenschrift
Landesinnungsverband Saxonia des Bäckerhandwerks Sachsen
Leipziger Lerchen Spezialist
Bäckerei Kleinert
Journal für Ornithologie
Artikel in Freie Presse
NABU
Komitee gegen den Vogelmord e.V.

 

Ute Gregory
https://utegregory.wordpress.com

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