Klebstofftube

Neustädter Fundstücke

Klebstofftube

85 × 45 × 10 mm
Aluminium, Kunststoff
Fundort: Grünfläche, Meißner Straße
gefunden am: 21.04.2012

Die ausgedrückte Klebstofftube mit der verblichenen blauen Beschriftung ging in der Meißner Straße verloren. Ihr transparenter und zähflüssiger Inhalt 33 ml „Duosan Rapid“
wurde benötigt, um die Folgen einer heimlichen Bruchlandung zu beseitigen.

Heimliche Bruchlandung

Mit einem Kribbeln im Bauch schlich ich mich in das Zimmer meines großen Bruders. Seit Weihnachten waren schon zwei Wochen vergangen und noch immer ließ er mich nicht einmal in die Nähe seines neuen Modellflugzeugs. „Dafür bist du noch zu klein“ meckerte er, „du machst es nur kaputt“. Dabei war er mit seinen 13 Jahren gerade mal drei Jahre älter als ich!

Auf dem Schrank sah ich es stehen. Der Küchenstuhl würde reichen. Ich warf noch schnell einen Blick auf die Uhr. Er würde erst in zwei Stunden nach Hause kommen.
Ich reckte mich auf dem Stuhl. Mit den Fingern konnte ich das Plastik schon spüren.
Ich reckte mich noch höher und tastete weiter. Die Spitze ragte über die Kante. Nur noch ein kleines Stück, dachte ich und zog das Flugzeug auf mich zu. Plötzlich ein Kippen, es fiel mit einem scheppernden Geräusch zu Boden. Mit zitternden Fingern hob ich es auf. Ein Flügel war abgebrochen, der Rest wie durch ein Wunder unversehrt. Was jetzt? Verloren stand ich neben dem Küchenstuhl. Papas Worte kamen mir in den Sinn „Duosan klebt alles!“ Wenn Papa doch nur schon zu Hause wäre! Ich wusste nicht, wo er den Kleber aufbewahrte. Aber ich könnte ja welchen kaufen!

Mit dem Inhalt meines Sparschweins in der Hosentasche rannte ich von unserem Haus in der Meißner Straße los. Ich bog in die Einertstraße ein und stoppte erst, als ich an der Ecke Eisenbahnstraße vor einem der großen Schaufenster des Konsums stand.
Ich spähte durch die Scheiben, konnte aber nur gestapelte Konserven und Weinflaschen entdecken. Aufgeregt ging ich in den Laden und trat vor die Verkaufstheke.
„Eine Tube Duosan Rapid. Bitte.“ Unendlich langsam erschienen mir die Bewegungen der Verkäuferin, als sie im Regal nach der silbernen Tube suchte. „Das macht 72 Pfennich!“ Glücklich suchte ich die Münzen heraus und sie sortierte das Geld in ihre graue Registerkasse.

90 Jahre vorher, im Jahre 1889 als die Konsumfiliale als erste der Leipziger Neustadt eröffnet wurde, hatten die Verkäuferinnen nur Stift und Papier um die Preise für die Waren zusammen zurechnen. Der Unmut über gepanschte Waren und die immer höher steigenden Lebensmittelpreise hatten die Neustädter Anwohner damals dazu bewogen, sich für die Gründung eines „Consumverein auf Gegenseitigkeit zu Neuschönefeld und Umgebung“ einzusetzen. Die Consumvereine verfolgten das Ziel, an Mitglieder und Nichtmitglieder unverfälschte gute Ware zu einem festen Tagespreis zu verkaufen.
Dazu zählten sowohl Lebensmittel, als auch Dinge für Haushalt und Gewerbe.
Der Gewinn wurde als Kapital gesammelt und teilweise als Dividende an die Mitglieder ausgezahlt.
Die Nachfrage war groß und so konnte der Umsatz bereits zwischen 1890 und 1894 von 13 000 auf 100 000 Mark gesteigert werden. Die Zahl der Mitglieder des Consumvereins verdoppelte sich in dieser Zeit auf 496.

Über viele Jahrzehnte sicherte die Verkaufsstelle in der Eisenbahnstraße die Grund-
versorgung der Neustädter Bürger. Heute sind die großen Schaufenster, durch die ich damals einen Blick warf mit Brettern vernagelt und mit Plakaten beklebt, die für Veranstaltungen in der Neustadt und in anderen Stadtteilen Leipzigs werben.

Aber das alles wusste ich an dem Tag meiner Bruchlandung noch nicht. Glücklich stopfte ich die Tube in die Hosentasche und machte mich eilig auf den Heimweg.

Ich packte die Teile vorsichtig auf Muttis Küchentisch. Dann drückte ich etwas vom Inhalt der Tube auf einen alten Marmeladenglasdeckel, nahm ein Streichholz und bestrich sorgfältig die Bruchstellen der Flugzeugteile. Ich drückte alles vorsichtig zusammen und wartete, bis der Kleber getrocknet war. Das klappte erst nach mehreren Versuchen.
Der stechende Geruch in meiner Nase erinnerte mich an die Worte der Verkäuferin:
„Das ist der Universalkleber schlechthin, aber stinken tut der. Den Geruch von Aceton kriegst du nie wieder aus der Nase mein Junge.“ Ich lüftete noch schnell die Küche und lies die leere Tube in der Hosentasche verschwinden. Vielleicht würde mein Bruder ja nichts merken.

Als ich am nächsten Tag in der Schule in meine Tasche griff, war die Tube verschwunden. Ich hatte sie wohl auf dem Schulweg verloren.

Quellen
Historisches aus dem Leipziger Osten

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Autor
Katrin Römer

Neustädter Fundstücke