Zuckerdose


Neustädter Fundstücke

85 × 55 × 55 mm
Ton, gebrannt, lasiert, bemalt
Fundort: Schulze-Delitzsch-Straße 39
gefunden am 16.04.2012

Ein kleines, weißes Tongefäß, aus zwei Teilen bestehend. Das Gefäß selbst ist mit weiden-korbähnlichen Mustern geschmückt. Auf einer Seite ist ein Riss, an dessen oberen Rand ein Stück herausgebrochen ist. Der Deckel ist mit zwei blauen, beerenähnlichen, auf grünen Blättern sitzenden Elementen verziert.

Wie eine Zuckerdose zu mir fand. Eine Kurzgeschichte. Impressionen aus der Leipziger Neustadt

Was sagt es über einen Menschen aus, der beim Auszug aus seinem alten Heim, all seinen Schund und Unrat zurücklässt? Was sagt es aus über Wertschätzung von Eigentum und materiellen Werten? Welche Umstände veranlassen die ehemaligen Bewohner der Wohnung in einem Neustädter Hinterhofgebäude beim Auszug, den
Inhalt ihrer Wohnung, Schränke, Matratzen, Küchengeräte, Nahrungsmittel, Pfandgut zurückzulassen. Wurde die Wohnung zwangsgeräumt? Waren sie auf der Flucht?
Sind sie Mietnomaden? Was ist da passiert?
Heute kann darüber natürlich nur gemutmaßt werden. Das relativ moderne Haus in
der Schulze-Delitzsch-Straße 39 steht seit über 12 Jahren leer. Übrig geblieben sind
nur die Spuren der Verwahrlosung, des Vandalismus und der mutwilligen Zerstörung
der Innenausstattung.

Auf den Erkundungsgängen durch die Leipziger Neustadt kam ich eher zufällig an
dem Hofeingang mit dem offenstehenden Tor vorbei. Mit den funkelnden, faszinierten Augen eines Entdeckers bewaffnet richtete ich meine Wahrnehmung gegen alles, was nach Spannung, Aufregung, Gefahr und dem würzigen, leicht herben Geruch des Abenteuers roch. Sofort zog mich diese Öffnung in ihren Bann. Was verbirgst du?
Welches Geheimnis steckt in dir? Wie lautet deine Geschichte? Gehe ich hinein?
Was wenn ich entdeckt werde? Sollte ich nicht einfach weiter gehen? Es ist doch
schließlich nur ein verlassenes, altes Haus auf irgendeinem Neustädter Hinterhof.
Davon gibt es viele. Nichts Besonderes also.
Natürlich ergriff ich die Gelegenheit doch.

Geübter Spion, der ich war, wartete ich unauffällig und unbemerkt ein paar Laternen entfernt und beobachtete das Geschehen für eine Weile. Keiner ging rein oder raus.
Die Postfrau kam, brachte die Post und verschwand so schnell, wie sie gekommen
war. Ansonsten war niemand auf der Straße, keine Omis, die verschwörerisch aus
ihren Fenstern guckten, keine Spaziergänger mit Hunden. Ein paar Autos in den Park- nischen. Ein wenig zu viel für diese Tageszeit vielleicht, aber in einer Großstadt wie
dieser wird das Auto auch gern mal stehen gelassen. Jetzt. Der perfekte Augenblick
für meinen Vorstoß war gekommen. Als Spaziergänger getarnt, schlenderte ich über
die Straße. Sah mich, beim Schuhe zubinden kurz um, und verschwand im Hofein-
gang. Dunkelheit. Mülltonnen, Stimmen. Ganz vorsichtig schlich ich mich weiter heran,
um das Geschehen auf diesem Hinterhof zu belauschen. Herzklopfen. Wer ist da? Bemerkt man mich? Ausrede parat? Entwarnung. Nachbargrundstück. Zwei Gestalten.
Sie entfernen sich vom Ort des Geschehens. Luft anhalten. Bis drei zählen. Unbemerkt, schleichend und im Laufschritt über den Hof, vorbei an den Fenstern des Hauses, hin
zu dieser Schatzkiste, dieser Wunderhöhle, diesem leer stehenden Abenteuerspielplatz
im hinteren Bereich des Hofes. Geschafft. Wieder, Dunkelheit. Müll. Auf dem Boden, überall. Kabelreste hängen von der Decke. Glaswolle, Isoliermaterial quillt aus den Wänden. Zerschlagene Scheiben. Putzbröckel liegen auf den Treppenstufen. Wasser- pfützen. Staub. Der feucht-schimmelige Geruch von Flohmärkten oder Wäschekellern
liegt in der Luft. Toll. Und da. Eine Treppe. Knarksen. Ein langer Gang, ein Flur, keine
Eingangstür mehr. Ich gehe hinein. Links, ein Zimmer, leer. Daneben, das Bad, Bade- wanne, Toilette, alles noch da. Die Scheibe eingeschlagen, die Luft feucht, ein wenig
frisch, moderig.  Die Küche. Ein Regal liegt mitten im Weg, es muss von der Wand ge-
fallen sein.
Im Laminat sind Abdrücke des Sturzes, eine Ecke des Regals hat deutliche Bruch-
spuren. Ein zweites Regal hängt an der Wand. Die Türen stehen offen. Kaffeeweißer, Pfeffer, Ablaufdatum 1992. Ein Fahrschein der LVB, selber Zeitraum, entwertet. Paprikagewürz, Gemüsebrühe. Alles voll mit Staub. Zentimeterdicke Flusenschichten auf allen Gegenständen. Alles verdreckt. Auf der Arbeitsplatte liegen Krümel, tote Insekten, kleine schwarze Köttelpunkte. 
Ein Hackbrettchen, oben drauf ein Brotmesser. In mitten diesem Chaos sind sie wie selbstverständlich dort platziert. Als lägen sie nur da, um gleich benutzt zu werden. Das frische Brot wird gerade vom Bäcker geholt, das Kaffewasser läuft noch durch. Ist der Tisch schon fertig gedeckt? Tatsache! Von den Schranktrümmern vor mit gut versteckt steht direkt vor dem Fenster ein Tisch. Aus Holz, nussbraun, dazu zwei passende Stühle, ornamental gedrechselt. Die Sitzkissen sind vergibt und speckig. Die rot – weiße Musterung ist noch zu erahnen. Auf dem Tisch, ein Gedeck. Ein Teller, eine Tasse, Besteck. Und was ist das? Ein hässliches, kleines Ding. Eine Senfdose? Oder ein Marmeladenschälchen? Die Zuckerdose vielleicht? Ich nehmen sie in die Hand und gucke hinein. Leer.
Plötzlich. Ein Geräusch. Ein Türknarren? Eindringlinge? Der Wind? Luft anhalten. Stille. Herzklopfen. Wurde ich entdeckt? Bin ich nicht allein? Verstecken? Ja! Wo? Anderer Raum. Groß. Graffitischmierereien an der Wand, eine Matratze auf dem Boden, kaputte Stühle, Plastiktüten, halbverbrannte Plastikflaschen, Zigarettenstummel, benutzte Mull- binden, Pflaster, Taschentücher, Zündhölzer, ein Löffel, Nadeln, Spritzen.

Ach du Scheiße! Lebt hier doch jemand? Ich lausche. Stille. Gut. Jetzt schnell weg. Keine Zeit für Fotos. Herzklopfen. In den Flur. Stop. Niemand da? Niemand da! Weiter. Treppe runter, aus dem Haus, über den Hof, durch die Tür. Geschafft.

Die kleine, hässliche Dose hatte ich natürlich immer noch in der Hand.

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Autor:
Markus Schladitz