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Eierbecher

 

Neustädter Fundstücke

Eierbecher

120 × 70 × 30 mm
Polyhydrokyalkanoat (Biokunststoff)
Fundort: Mariannenstraße 47
gefunden am: 23.04.2012

Eierbecher dienen dazu, gekochte Eier am Davonrollen zu hindern, wenn sie direkt aus der Schale gegessen werden. Dieser heute alltägliche Bestandteil des Frühstücksgeschirrs war lange Zeit ein Luxusgegenstand und Ausdruck gehobener Tischsitten.

 

Die Alte, Randale und der Eierbecher

Vermietet wurde mir die Wohnung unter dem Prädikat „in ruhiger Lage“. Hab sie mir angesehen – ziemlich ruhig, fand ich, dafür, dass Leipzig eine Studentenstadt sein soll. Die Mariannenstraße Ecke Hedwigstraße in der Leipziger Neustadt machte tagsüber tatsächlich einen angenehmen Eindruck, die ersten zwei Wochen.

22.06.1973
Margarethe feiert ihren 70. Geburtstag in der Hedwigstraße im dritten Stock. Kinder hat sie nicht, die Eltern leben längst nicht mehr, aber ihre Schwester aus dem Nachbarbezirk Volkmarsdorf hat sich angekündigt und schleppt sich wie immer mit einem Riesenpaket die Holztreppen hoch. Sie hat Schokolade mitgebracht, ein Päckchen Kaffee, ein Sammeltassen-Service und ein hässliches Zweierset gelber Eierbecher. „Was soll ich mit zwei Eierbechern?“, denkt sich die Alte. Ihr Mann starb 1949, da war Margarethe 46 und Alfred viel zu früh weg.
Wochen später traut sie sich, einen der Eierbecher zum Frühstück mit rauszustellen. Aber nur weil der geliebte letzte Porzellanbecher kaputtgegangen ist.
Der neue Becher passt nicht zum restlichen gepflegten Geschirr. Sie betrachtet den Eindringling. „En Auge für schöne Dinge hat se ja noch nie gehabt“, denkt sie laut über ihre Schwester. Aber der Eierbecher erfüllt seinen Zweck weitere 15 Jahre lang.

23.04.2012
Es kotzt mich an. Die ganze Nacht wieder Geplärre und sächsisches Gebrüll. Irgendein Typ hat seine Freundin auf der Straße fertig gemacht – entweder, weil er besoffen war oder weil LOK Leipzig wieder verloren hat. Ein Iraner oder Iraker aus dem vierten Stock gegenüber in der Meißner Straße dachte, wenn er noch lauter schreien würde, wäre Ruhe. Aber die Kasachin zwei Etagen über mir hat sich dann auch noch eingeschaltet. Das allnächtliche Chaos schließt morgens kurz nach sieben, wenn die Sanierungsarbeiten in der Hedwigstraße Ecke Mariannenstraße anfangen. Seit zwei Jahren. Seit ich die Wohnung „in ruhiger Lage“ habe.

22.06.1988
Die Alte erlebt ihren 85. Geburtstag nicht mehr, auch die Wende nicht, aber das hätte an ihrer persönlichen Situation wohl auch nichts geändert. Die Wohnung wird ausgeräumt bis auf den Küchenschrank, für dessen Demontage vielleicht das richtige Werkzeug gerade fehlte. Nach und nach ziehen die Mieter aus oder versterben. Befüllt wird das Haus nicht weiter, es soll abgerissen oder renoviert werden.

Bauarbeiter betreten das Haus 2010, 22 Jahre später. Margarethes Küche wird Stück für Stück aus dem Fenster in einen Container geworfen. Einer von ihnen findet den den ungeliebten Eierbecher der Alten. „Sigara tabasi!“, ruft er, was soviel heißt wie Aschenbecher auf türkisch.

23.04.2012
Ich sitze am Fenster und rauche, schlafen kann ich sowieso nicht mehr bei dem Lärm. Ich kann sehen, wie die Arbeiter blaue Küchenmöbel aus dem dritten Stock schmeißen. „Schönes Blau eigentlich“, denke ich, als einer der Schränke fliegt und einen Moment später beim Aufprall zerbirst. Ich betrachte fasziniert das Geschehen, wie kleine Dinge nach dem Aufprall aus den Schränken zum Vorschein kommen. Dabei springt ein gelbes Plastikteil aus dem Container ins Gebüsch. Als ich zur Vorlesung fahre, packt mich doch die Neugier und ich will sehen, was das gelbe Teil war. Ich bin enttäuscht, dass es nur ein mit Aschespuren versetzter Eierbecher ist.

Quellen
http://www.nachwachsende-rohstoffe.info
http://de.wikipedia.org/wiki/Eierbecher

Weitere Links
Download Objektbeschreibung
www.machart-hennig.de

Autor
Ulrike Hennig

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