Kleiner Puppenstuhl

Artefakte moderner Archäologie
Kleiner Puppenstuhl
50 x 40 x 80 mm
Balsaholz
Fundort: Quedlinburg
gefunden im Jahr 2008
Der Stuhl wurde aus einem Modellbaukasten entnommen. Er ist sehr leicht, gelb bemalt, zeigt aber erstaunlich wenig Abnutzung.

Ich weiß nicht mehr genau wann, aber noch genau, wo ich den Stuhl wieder entdeckt habe.
Damals noch in Quedlinburg, der Stadt in der ich geboren wurde, hatten wir einen, um es nett zu sagen, etwas voll gestellten Keller. In dem kleinen Raum fiel nur durch winzige Fenster Licht vom handtuchbreiten Vorgarten aus. Die Wände waren schlecht isoliert, deshalb hatten die Holzregale bereits begonnen zu zerbröseln, die Wände hatten nahe der Fußleiste einen grünweißen Flaum und die zahlreichen Kisten mit alten Spielzeug, Schallplatten, Kassetten und Werkzeug setzten dunkle Flecken an.
Kurz: Es roch nach alten, vergessenen Dingen.
Ich weiß noch genau, dass ich auf der Suche nach einer intakten Fahrradpumpe für mein blaues, uraltes Klappfahrrad war. Es hatte schon meinem Opa gehört. Die Lampe funktionierte nur, wenn es ihr gefiel, der Sattel war kaputt, die Reifen muckten oft herum. Dennoch liebte ich die kleinen Blumen, die ich alle allein auf den Rahmen gemalt hatte und ich kann mich immer noch nicht von der alten Rostmühle trennen.
So bahnte ich mir einen Weg durch die Kammer des Moders als mein Blick auf eine Pappkiste fiel. Ich weiß gar nicht mehr genau warum, wahrscheinlich aber nach der Pumpe suchend, holte ich den mit vielen Spinnenweben übersäten Karton vom Regal und sah erwartungsvoll hinein.
Nichts nützliches.
Da war eine kaputte Spieluhr, ein batteriebetriebener Weihnachtsmann, den unsere Oma aus dem Westen geschickt hatte, eine Tüte, deren Inhalt ich nicht genauer erforschte und ein kleiner, gelber Stuhl.
In Gedanken musste ich sardonisch lachen. Der Puppenstuhl von unserem alten Puppenhaus, also von meinen drei Schwestern und mir.
Ich teilte damals ein Zimmer mit meinen beiden jüngeren Schwestern, wobei die Ältere der beiden, mit mir zusammen im Hochbett schlief. Wir hatten viel Spielzeug.
Ich glaube, es war Weihnachten, als uns meine Mutter ein Geschenk der besonderen Art machte: ein zweistöckiges Puppenhaus mit Dachboden, in mühevoller Kleinarbeit selbst zusammengebaute, empfindliche Möbel samt selbst genähter Sitzpolster, Kissen und Bettdecken und außerdem selbst gebastelter Puppen.
Eigentlich war es eher ein Geschenk für Sammler.
Ich war damals noch Kind, trotzdem wusste ich, wie viel Mühe und Gefühl meine Mutter in dieses Geschenk investiert hatte. Und irgendwie wusste ich auch, dass meine Mutter sowohl traurig wäre, wenn wir nicht damit spielten, aber auch wenn irgendetwas zu Bruch ging. Vielleicht trügt mich meine Erinnerung, aber ich glaube, es war einer der dunkelblauen Küchenstühle, der zuerst entzwei ging. Ich kann mich gut an die Hände meiner Mutter erinnern. Sie waren schon immer von viel Arbeit gekennzeichnet gewesen. Ich weiß, dass sie gesagt hat, dass es nicht so schlimm sei.
Aber aus heutiger Sicht glaube ich, dass meine Mutter sich schon geärgert hat. Sicher, es war nur ein Stuhl. Aber was hat sie gedacht als nach und nach die anderen Möbel zu Bruch gingen?
Ich weiß, dass das Haus noch da war, als wir, damals noch mit meinem Vater, nach Gernrode zogen. In unserem neuem Heim hatte ich ein eigenes Zimmer, also weiß ich nicht genau, was passiert ist.
Es folgen für mich vier endlose, verworrene Jahre, deren Erinnerungen ich heute nicht mehr zuverlässig schildern kann.
Als wir wieder nach Quedlinburg zogen, war die Puppeneinrichtung weg. In einer monatelangen Kraftanstrengung hat es meine Mutter irgendwie geschafft den Umzug von der Buchenallee zurück nach Quedlinburg zu managen. Ich fragte und frage mich, was wohl mit der übrigen Einrichtung passiert ist.

Ist sie während des Umzugs einfach abhanden gekommen?
Ist nach und nach alles kaputt gegangen und auf den Müll geworfen worden?
Haben wir das Puppenhaus vielleicht an befreundete Familien mit Kindern geschenkt?
Warum haben nicht mal die Puppen das überstanden?
Und warum ist nur noch der gelbe Stuhl da? Ich weiß, ganz genau, dass er zu diesem Puppenhaus gehörte, aber nicht mehr in welches Zimmer.

Ich stand lange wehmütig und auch erfüllt von Schuld im Keller mit diesem kleinen Erinnerungsstück an eine vergangene Kindheit in der Hand. Und als ich mich umsah erkannte ich, dass viele Dinge im Keller Erinnerungen hervorriefen an eine Zeit, die ich lange sehr erfolgreich einfach verdrängt hatte. In diesem voll gestopften Kellerabteil sah ich den ungeheuren Ballast visualisiert, den meine Familie seit der Trennung meiner Eltern und dem Tod meines Vaters mit sich herum trug. Schwelend und schimmelnd in eine dunkle Kammer tief unten verbannt, wo man sich nicht allzu bald damit beschäftigen muss, doch immer ein drohender Gedanke zwischen uns, der beinahe für eine Entfremdung gesorgt hätte.

Der kleine Stuhl zeigte mir nun ein fernes Bild eines kleinen Mädchens, dass ich einmal gewesen war. Und die Vergänglichkeit aller Augenblicke strömte auf mich ein.

Die Vergänglichkeit der Dinge und des Seins ist allerdings ein recht jüdisch-christlicher Gedanke. Im Buch Kohelet des alten Testaments, dass pessimistisch, fast nihilistische Züge trägt, wird erstmals der Satz „Es ist alles eitel.“ erwähnt. Dieser Grundgedanke liegt den Vanitas-Motiv zugrunde. Hierbei wird allerdings auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „eitel“ abgezielt, welche eher „nichtig“ meint.
Schon in der Antike klagten die Menschen über die Vergänglichkeit der Dinge. Heidnische Gräber belegen, dass die Menschen sich an Vergängliches zu klammern suchten, indem sie ihre Gräber reich bebilderten und so das Vergängliche scheinbar greifbar und dauerhaft machten. So sprach Hippokratis die Worte: „Vita brevis, ars longa.“ („Das Leben ist kurz, die Kunst ist dauerhaft.“)

Diese Auffassung wieder spricht jedoch gänzlich, dem im Mittelalter verbreiteten Christentum. Um 1140 schreibt Bernard von Cluny: „Von der gestrigen Rose bleibt nur der Name.“ Eine bilderfeindliche Atmosphäre entstand. Das Kreieren für die Ewigkeit wurde zum Frevel, da belebte Dinge zu schaffen allein Gott vorbehalten war. Alle vom Mensch hergestellte Dinge waren somit seelenlos. Das Wesentliche, das Lebendige ließe sich nicht festhalten.

„Dixit insipiens in corde suo: Non est Deus“ („Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott“)

„Dixit insipiens in corde suo: Non est Deus“ („Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott“)

Vanitas wurde jedoch nicht nur mit Schwermut verbunden. Der Hofnarr sollte den König durch seine Narretei auch an die Vergänglichkeit des Seins erinnern. Die Narrenkappe wurde zum Sinnbild für Albernheiten und Verwerflichkeit. Fastnacht war im Spätmittelalter ein Feiertag mit großen Tanz- und Theaterfesten ebenfalls unter dem Thema der Vergänglichkeit.

Mit dem Aufblühen der antiken Künste in der Renaissance gerieten Künstler zunehmend in Not ihre Kunstwerke zu rechtfertigen. Ein Kunstwerk durfte nur so öffentlich sein, wie seine Botschaft warnend. So zeigt Dürer sowohl seine Virtuosität als auch den selbst verschuldeten Untergang der Menschen in seinem Werk „Die apocalyptischen Reiter“.

Das Empfinden, dem Leben und Sterben gegenüber ohnmächtig zu sein, gipfelte im Zeitalter des Barocks. Vorallem die Zerstörungen durch den dreißigjährigen Krieg und die Pest machten den Tod zum ständigen Begleiter der Menschen.

Ein vor allem auch nach dem Zweiten Weltkrieg oft zitiertes Gedicht von Gryphius besagt:

„Du sihst / wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden.
Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein:
Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein,
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.

Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen asch und bein.
Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
Itzt lacht das Gluck vns an / bald donnern die beschwerden.

Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Sol denn das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten,

Als schlechte nichtikeitt / als schaten, staub vnd windt.
Als eine wiesen blum / die man nicht wiederfindt.
Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.“

Es gibt sehr gut den Geist der Zeit wieder, der von Tod und Krankheit gekennzeichnet war. Die starke Verbindung mit dem Tod sorgt für verschiedene Umgänge mit Vergänglichkeit, wie gottgefälliges Leben („Memento Mori.“, Gedenke, dass du stirbst.) oder einem ausschweifenden Leben („Carpe diem.“ „Nutze den Tag“, was eher epikureistisch als hedonistisch zu verstehen ist). Der Gegensatz von Schönheit und Verderben wurde oft thematisiert. Sowohl Bildgegenstand als auch Betrachter wurden zu verwaisten und letzendlich verschwinden Subjekte.
Die ungemein beliebten Stillleben des Barocks rechtfertigten ihre horrenden Preise mit der eindeutigen Botschaft der Vergänglichkeit, die zum gottgefälligen, christlichen Leben anhalten sollte. Schneckenhäuser und Gläser, welkende Pflanzen, zarte Tiere, verkommene Nahrung und christliche Güter kreierten in diesen Kunstwerken ein heute noch wahrnehmbares Gefühl des Überdruss und Verkommenheit.

Jan Davidsz de Heem barockes Stillleben entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jhd.

Jan Davidsz de Heem barockes Stillleben entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jhd.

Erst in späterer Neuzeit wird der Vanitas-Gedanke aufgerieben. Die zunehmende Hinwendung zu Wissenschaften und die Aufwertung des Bügertum sorgt für eine regelrechte Verkehrung von Vanitas-Motiven. Der Totenschädel wird schon bald zu einem Sinnbild für die Wissenschaften. Kunstwerke sind nicht länger durch ihre Unfähigkeit das Lebende zu hundert Prozent wieder zu geben herab gesetzt. Im Gegenteil: Die Herausforderung an den Betrachter das Kunstwerk zu verstehen und zu erfassen macht ihm ein Kompliment und so spricht das Kunstwerk in einer unsterblichen Sprache zum wechselnden Betrachter.


Im 18. Jahrhundert werden Vanitas-Motive zunehmend in romantischen und populären Werken verwandt, was der abnehmenden Bevormundung durch Welt und Kirche zu schulden ist. Eine Welle an Schauergeschichten entsteht. Mary Shelleys „Victor Frankenstein oder der moderne Prometheus“, Edgar Allan Poes Ballade „The Conqueror Worm“ und Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ verwenden alle Vanitas-Motive, die eine ähnliche Verquikung von Hässlichkeit und Schönheit anstreben.
Vanitas hat heute eine gewandelte Qualität. Der Roman „Das Parfum“ von Patrick Süßkind führt die Verbindung von Vanitas und Horror weiter. Der Protagonist Grenoulli sieht sich zunächst der Vergänglichkeit der Gerüche gegenüber, bevor er selbst nach seiner Mordserie umkommt. Vanitas ist heute wie damals von Melancholie geprägt.

Die Zeit heilt angeblich alle Wunden, doch zunächst ist die Zeit die Wunde. Ein Ausspruch, den ich schon vor Jahren in einem Buch von Elke Heidenreich las. Ich glaube, dieses Gefühl zu verstehen, wenn die Zeit zum unbarmherzigen Fleischwolf wird und alles und jeden verschlingt, zur Unkenntlichkeit verzerrt und nichts zurück lässt, als ein vages Gefühl, dass eigentlich immer Unsicherheit hervorruft.

Die Zeit vergeht, obwohl sie doch stehen bleiben soll.
Sie rennt so schnell, dass uns unsere Erinnerungen durch die Finger rinnen wie feinster Sand.
Sie klammert sich an uns, an andere und an Gegenstände, sodass wir, konfrontiert mit ihnen und mit uns, in Bruchteilen Jahrzehnte erleben.

Autor und Foto
Maria Horinek

Links
Vanitas
Carpe diem
Die apokalyptischen Reiter
Der Narr im Mittelalter
Les Fleurs du Mal
Stillleben von Jan Davidsz de Heem
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Literatur
Heidenreich, Elke: Der Welt den Rücken, Hanser-Verlag 2001
Süßkind, Patrick: Das Parfum, Diogenes 1985