Opernglas


Artefakte moderner Archäeologie

Opernglas
95 x 23 x 33 mm
Glas/Metall, schwarz lackiert
Fundort: Zwickau
gefunden am 21. Februar 2003

Das Opernglas aus dem Hause ROW, einem renommierten Betrieb für optische Erzeugnisse in der ehemaligen DDR, eröffnet den Blick auf etwas ursprünglich nicht Gesuchtes. Glück über das Gefundene, das überraschend von großem Wert ist.

Serendipity – Finderglück

„the ability to make pleasant and unexpected discoveries entirely by chance“

Für den engl. Begriff „serendipity“ gibt es keine adäquate Übersetzung. Weiter gefasst steht er für „Glücklicher Zufal“ und die Gabe von Menschen, glückliche, unerwartete Entdeckungen zu machen, während sie nach etwas ganz anderem suchen. Serendipity ist Finder-Glück, das Glück, über das ursprünglich nicht Gesuchte, das doch überraschend von individuellem Wert ist. So geschieht es immer wieder, dass ich mich in Situationen wieder finde, in denen Serendipity mir ermöglicht in den Kleinigkeiten des Lebens das große Glück zu sehen, denn in nichts Anderem liegt größere Kunst.

Februar 2003, ich war gerade 14 geworden, alle Geschenke und Glückwunschkarten waren längst ins Regal geräumt, alle Gutscheine eingelöst. Nur noch zwei kleine Eintrittskarten lugten mir von der Pinnwand meines Schreibtisches entgegen und das gut lesbare, in roter Schrift gedruckte Einlösedatum rückte in unaufhaltbare Nähe. Nicht groß anders, als der 18jährige Bernd, hätte ich als Teenager geantwortet, hätte man meine damalige Meinung zur Oper erfragt.

„[…] über der Oper schwebt irgendwie so was konservatives, von älteren Leuten, mit feiner Kleidung angezogen, das assoziiert man automatisch mit der Oper. […] Das muss ein neues Image kriegen, von Anfang an sich anders präsentieren, dass junge Leute reingehen.“ (Bernd,18)

Zwei und halb Stunden „Die Zauberflöte“ von Mozart und das zum Wochenendauftakt. Mit der entsprechenden Stimmungs- und Erwartungshaltung einer Pubertierenden – kontrovers zur euphorischen Haltung meiner erwachsenen Begleitung – fand ich mich am Freitagabend im Opernhaus unserer Stadt ein. Eindeutig hatte der große Saal seine besten Tage schon weit hinter sich gelassen, was aber niemanden daran zu hindern schien, durch eleganteste Opernrobe, aufwendig gearbeitete Frisuren und wohl gewählte Gespräche mit ihm in Kontrast zu treten.
Während der ersten Stunde empfand ich das Bühnenspektakel noch als belustigend, doch bald darauf begann ich dem bevorstehenden Schlussakt immer dringlicher entgegen zu sehnen und unruhig auf meinem Sitz herum zu rutschen.
„Klatsch!“ – Was war das?

Etwas war auf den Boden unter meinen Sitz gerutscht. Mein Portmonee? Suchend begann ich das Dunkel zu ertasten und kurze Zeit später hielt ich einen aufregenden Fund in meinem Schoß.
EIN OPERNGLAS. Zerkratzt. Verbraucht. Ohne Besitzer.

Ich blickte in die umsitzende Menge. Doch so sehr ich mich auch bemühte, konnte ich niemanden beim Gebrauch eines solchen „Dinges“ entdecken. Zaghaft, nach einem ersten Sicherstellen, dass niemand mich beobachtete, blickte ich durch das brillenartige Gestell. Bevor es mir gelang, das Geschehen der Bühne zu fokussieren, wanderten zahlreiche Gesichter durch mein Blickfeld. Ich hielt inne.

Faszination, Gespanntheit, Gleichgültigkeit, Gähnen. Laienhaft aufgetragenes Make up und die nach Vorstellungsbeginn heimlich aufgesetzte Brille. Mein anfänglich wahrgenommener, doch sehr aufgesetzt wirkender Glanz des Abends schien allmählich zu weichen. Diese Gesichter, die in ihnen ablesbaren Regungen waren faszinierend echt. Bald begannen in meinem Kopf gelebte Leben vorbeizuziehen. Je nach dumpf wahrgenommener Musik leidenschaftliche, wehmütige oder sehnsüchtige Leben. Selten zuvor hatte ich einen so unverfälschten Blick auf Menschen geworfen. Ich fühlte mich ihnen nah – in vielfacher Weise. Ich war gefangen. Ein vibrierendes Getose riss mich aus meiner Gedankenwelt zurück und ließ mich aufblicken – Applaus. Ende!

Ende meines ersten Opernbesuches mit so prägender Wirkung!
Er hat nicht vordergründig mit Libretto, Bühnenbild oder künstlerischer Leistung zu tun gehabt. Ehrlich gesagt, habe ich das Meiste davon vergessen. Aber nachhaltig hat er den Entschluss in mir bestärkt, nicht an der Oberfläche zu verharren, einen zweiten Blick zu wagen und Zeit zu investieren in „scheinbar“ unbedeutende Dinge.

Serendipity ist die Wirkung versehentlich etwas Glück zu entdecken, während man eigentlich nach gar nichts sucht. Sie betont zusätzlich „Untersuchung“, auch „intelligente Schlussfolgerung“ oder Findigkeit. Genau hinsehen. Das versuche ich bis heute.

Oder mit den Worten des jungen englischen Königs Henry V. sprechend:

„All things are ready, if our minds are so!“

Links

Ausführliche Begriffserklärung „Serendipity“

Jugendliche im Bann der Oper – Ein Widerspruch?
Wissenschaftliche Arbeit der Theaterpädagogischen Akademie Heidelberg

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Autor

Nadja Rzehak

Artefakte moderner Archäeologie