Kettenuhr

Kettenuhr


Kettenuhr
Durchmesser: 33mm
Silber
Fundort: Biederitz
Gefunden am 14. April 2011

Zu Haus in einer kleinen Holzschatulle im Bücherregal fand ich sie: Eine alte, kleine Uhr, die durch eine Öse an einer Kette um den Hals zu tragen war.

Wie ein Familienerbstück mich zum Nachdenken brachte
Durch Nachforschungen innerhalb der Familie wurde mir folgende Geschichte dieser Uhr bekannt:
Sie gehörte meiner Ururgroßmutter Anna, deren Familie Ende des 19. Jahrhunderts in Schlesien lebte.
Nach dem frühen Tod der Mutter musste die damals erst 13-jährige Anna zur Unterstützung des Vaters für ihre drei Geschwister sorgen. 1890 entschied sich der Vater, zu Verwandten nach Hamburg- Altona zu ziehen.
Das Schicksal meinte es mit der Familie nicht gut. Der Vater heiratete noch zweimal, doch beide Ehefrauen starben früh.
Mit 20 Jahren heiratete Anna, mehr wohl um versorgt zu sein als aus Liebe und hatte für drei Kinder zu sorgen.
In dieser Zeit muss sie sich die Uhr gekauft haben, obwohl die finanziellen Verhältnisse ärmlich waren, denn ihr Mann war Bahnangestellter und sie ohne jegliches Einkommen. Das führte dazu, dass innerhalb der Familie das Gerücht entstand, dass sie wohl ohne Wissen ihres Mannes die dafür erforderlichen Mittel vom Wirtschaftsgeld abgezwackt hätte.
Ob diese Version stimmt, ist Annas Geheimnis geblieben.
Im Laufe der Jahre zog Anna mit ihrer 5- köpfigen Familie mehrmals um, bis sie in Magdeburg landete – immer im Gepäck die Uhr, die Mitte Januar 1945 einfach so stehen blieb.

Neben der kurzen Erinnerung an vergangene Familiengeschichte beginne ich angesichts der Uhr zu philosophieren:
Was ist eine Uhr eigentlich für ein Gegenstand?
Nach einer Weile stelle ich fest, dass eine Uhr etwas Menschliches an sich haben muss, denn ihr werden Tätigkeiten und Eigenschaften zugedacht, die im besonderen Maße auf Menschen zutreffen. Spontan fallen mir dazu auch noch einige direkte Vergleiche ein.
Eine Uhr geht. Sie ist in Bewegung
Eine Uhr bleibt stehen – aus unterschiedlichen Gründen.
Wenn ein Mensch gestorben ist, ist seine Uhr abgelaufen.
Eine Uhr schlägt. Sie hat in ihrem Innern ein Uhrwerk, das dafür sorgt, dass sie in Gang bleibt. Oder das Herz eines Menschen schlägt regelmäßig im Takt wie ein Uhrwerk.

Mitten in diese „tiefgründigen“ Überlegungen schießt mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich zurück zu meiner Uhr führt und damit in das beginnende letzte Jahr
des  2. Weltkrieges, genauer gesagt, Mitte Januar 1945.
Ich beginne, das Stehenbleiben der Uhr mit den für die Magdeburger schrecklichen Ereignisse der damaligen Zeit in Verbindung zu bringen und das Nicht – mehr – Weitergehen der Uhr symbolisch zu sehen.
An dieser Stelle komme ich nicht an geschichtlichen Fakten vorbei.
In den Abendstunden des 16. Januar 1945 wurde aus Magdeburg zum 2. Mal eine tote Stadt.

Die erste Zerstörung erfolgte am 10.05.1631 durch Tillys Truppen im 30-jährigen Krieg nach wochenlanger Belagerung mit dem Sturm auf Magdeburg.
Sie verwüsteten, brandschatzten und plünderten die Stadt in einem Ausmaß, dass der Begriff „Magdeburgisieren“ als Sinnbild für Zerstörung und Grausamkeit von da ab galt. 1.800 Wohnhäuser wurden niedergebrannt. Von ehemals 35.000 Einwohnern kamen 20.000 ums Leben.
Magdeburg, eine der größten und reichsten Städte Deutschlands, hörte auf zu existieren.

Drei Jahrhunderte später wurde Magdeburg in nur 39 Minuten von englischen und amerikanischen Bombern abermals in Schutt und Asche gelegt. Die Innenstadt wurde zu 90% zerstört, die Stadt zu 60%.
(Website Magdeburger Chronist)
Der Breite Weg – eine der schönsten Barockstraßen Deutschlands – war fast nur noch als Trümmerhaufen vorhanden. 190.000 Menschen verloren ihr Zuhause,
2.500 Tote waren zu beklagen. (Website  Luftangriff auf Magdeburg)
Stabbrandbomben, Phosphorbomben, Minenbomben, Sprengbomben und Luftminen fielen auf die Menschen und die Stadt nieder.
Ein unbekannter Magdeburger schrieb dazu:

Seh ich das Bild von Magdeborch,
denn zittern mich die Beene,
Denn jeht mich das so durch un
durch,
denn denk ich an Magdeborch,
an Magdeborch – un weene.
(aus: Magdeburg in Alten Postkarten; Joachim Schütte)
(Website Magdeburger Chronist)

Wenn ich mir jetzt während meines Gedankenspiels überlege, wodurch diese Uhr ihre Besonderheit erhält und wertvoll wird, komme ich auf zwei Gründe:
Zum einen ist sie ein Familienerbstück, ca. 110 Jahre alt  (Was auch nicht jeder aufzuweisen hat.) und ein Teil unserer Familiengeschichte.
Zum anderen ist sie für mich eine Art Mahnung dafür, dass Krieg und Zerstörung das größte Unheil für die Menschen bedeutet. Gleichzeitig erinnert sie an das Schicksal Magdeburgs und seiner Bewohner vor 66 Jahren und wird damit zum Zeugen einer Zeit, in der alles stillstand.

Mein Entschluss steht fest, die Uhr nicht mehr in die Schatulle zurückzulegen, in der ich sie gefunden habe, sondern ihr samt Sockel einen Platz in meinem Schrank zu geben, gut sichtbar für alle, die zu mir kommen.

Anhang

Informationen zum Modell der Uhr
Das mit der Zeit angelaufene Gehäuse bildet einen dunklen Rahmen für das noch immer unbeschadete und strahlend weiße Zifferblatt. Besonders auffallend ist die feine Verarbeitung der Ziffern, die die Minuten in Dezimalzahlen, die Stunden in römischen Zahlen anzeigen. Auf der Rückseite befindet sich eine filigrane Gravur. Klappt man den Deckel auf, blickt man auf einen zweiten schützenden Deckel, auf dem Cylindre 10 Rubis Remontoir steht.
Im Internet stieß ich auf einige Hinweise über Herkunft und Produktion solcher Art Damenuhren. So bedeutet Remontoir (frz.) eine Aufziehvorrichtung für Taschenuhren, die per Hand, also ohne Aufziehschlüssel, betätigt werden muss. 10 Rubis besagt, dass 10 Lagersteine (Rubine) im Uhrwerk verarbeitet wurden. Die feinen, kaum zu erkennenden unterschiedlichen Initialen, die sich in der Innenseite des äußersten Deckels befinden, weisen wahrscheinlich auf die verschiedenen Uhrmacher hin, die die Uhr reparierten oder ölten.
Dieser Typ Uhr wurde massenhaft um 1900 produziert, weshalb kein Firmenname in das Uhrengehäuse graviert wurde. Es handelt sich um ein Produkt der Massenherstellung, die durch die Industrielle Revolution um 1900 in Deutschland Einzug hielt. Durch den technischen Fortschritt konnten preiswertere Uhren hergestellt werden.
(Website Schmuck und Uhren)


Quellen

Links

Website Magdeburger Chronist

Website Luftangriff auf Magdeburg

Website Schmuck und Uhren


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Autor

Dalchow, Dajana

Fotos
Dalchow, Dajana
Abbildung 2

Artefakte moderner Archäologie