Hornlöffelchen

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Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013

Hornlöffelchen

164 × 10 × 26 mm
Horn, versilbertes Eisen
Fundort: Leipzig, Lindenau
Funddatum: 11. Mai 2013

Einer der letzten Invaliden aus der Zeit der napoleonischen Befreiungskriege: Während die aus Horn gefertigte Laffe zwei Jahrhunderte überdauerte, fiel der ursprüngliche Griff des Löffels patriotischer Pflichterfüllung zum Opfer.

„Gold gab ich für Eisen“ – mit diesem Spruch rief Prinzessin Marianne von Preußen 1813 ihre Untertanen dazu auf,  zum Zweck der Kriegsfinanzierung wertvolle Edelmetalle  zu spenden. Anstatt der Preziosen erhielten die Spender häufig Nachbildungen aus Eisen, die, repräsentierten sie doch den Dienst am Vaterland, stolz zur Schau gestellt wurden.

Arthur_Kampf_Volksopfer_1813-300x220Doch auch außerhalb Preußens war es damals üblich, die eigene Nation nicht allein durch den lebensgefährlichen Einsatz auf dem Schlachtfeld, sondern materiell zu unterstützen. So war es auch für den damaligen Eigentümer des Hornlöffelchens selbstverständlich, den wertvollen ursprünglichen Griff des Essbestecks im Rahmen der Volksopfer dem Königtum Sachsen zu spenden. Die verbleibende Laffe aus Horn behielt er, verzichtete jedoch zunächst darauf, einen neuen Griff anfertigen zu lassen. Stattdessen beließ er die Löffelschale, die ob ihrer geringen Größe vermutlich einem kleinen Kindermund angepasst war, in ihrem fragmentarischen, kaum mehr benutzbaren Zustand. Vielleicht erinnerte ihn die optische Verstümmelung des Löffels an weitaus schwerwiegendere persönliche Verluste, die der Kampf an der Seite Napoleons ihm ebenso wie der gesamten Leipziger Bevölkerung eingetragen hatte. Vielleicht offenbarte sich ihm das Vorgehen, das dem Urbild einer schöpfenden Hand nachgebildete, lebensspendende Esswerkzeug letzten Endes der Tötung Unzähliger zu opfern, nur einen Augenblick lang in seiner ganzen Perversion.

In Anbetracht der historischen Gegebenheiten ist es jedoch wahrscheinlicher, dass das Löffelfragment die Heimattreue seines Besitzers attestieren sollte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellte selbst für diese vermutlich wohlhabende Person ein Löffel  ein bedeutsameres Besitztum dar, als es sich der heutige Konsument industriell gefertigter Massenware vorstellen kann: Nicht selten bekam man einen einzelnen kostbaren Löffel zur Taufe geschenkt, den man anschließend bis zum Lebensende benutzte. Häufig verfügte auch allein das Familienoberhaupt über jenes Hoheitsrecht, worin auch das heute noch gängige Idiom „den Löffel abgeben“ seinen Ursprung hat. Dass der Besitzer dieses sowohl materiell wie persönlich wertvolle Besteck bereitwillig in die Waagschale der Krieg Führenden warf, kann als Symptom einer entfachten deutschnationalen Begeisterung betrachtet werden. Doch obwohl diese sich in den darauffolgenden Jahrzehnten keineswegs verlor, büßte das Löffelfragment mit dem allmählichen Verblassen der persönlichen Erinnerungen seines Besitzers nach und nach an ideellem Wert ein, sodass es nach dessen Tode lediglich als Kuriosität Eingang in seinen Nachlass fand.

Gut hundert Jahre waren seit der Völkerschlacht vergangen, als ein Nachfahre beim Stöbern zufällig auf die Hornlaffe stieß. Die Zeit hatte jene ihrer ursprünglich großen persönlichen Bedeutsamkeit beraubt; da dem Finder aber ihre sanfte, mit der organischen Maserung des Materials korrespondierende Formgebung gefiel, ließ er für die Löffelschale den versilberten, floral ornamentierten Griff anfertigen, der auch heute noch mit ihr verbunden ist. Auf diese Weise wurde einerseits harmonisch zusammengefügt, was einst durch den Befreiungskrieg getrennt worden war. Andererseits hatten sich die Zeiten geändert; die ursprüngliche Gestalt des Löffels war unwiederbringlich in Vergessenheit geraten und durch nichts konnte der Zustand von vor 1813 wieder hergestellt werden.
Unter praktischen Gesichtspunkten bedurfte es des zierlichen Geräts mit dem Älterwerden der Kinder wohl nur für einen sehr begrenzten Zeitraum; und auch das anfänglich ästhetisch so faszinierende Hornmaterial wurde in späteren Jahren im alltäglichen Gebrauch durch Plastik ersetzt.

So wurde der einzelne, keinem wertvollen Service angehörende Löffel an ein Antiquariat im Leipziger Westen verkauft. Dort wartete er in einer Vitrine, umgeben von unzähligen anderen Gegenständen darauf, mir die in seinem Wesen, seiner Materialität, still eingeschriebene Geschichte erzählen zu dürfen.

Literatur- und Quellenverzeichnis
Museum der bildenden Künste Leipzig (Hrsg.): 1813. Die Zeit der Befreiungskriege und die Leipziger Völkerschlacht in Malerei, Graphik, Plastik. Leipzig 1988
Wikipedia: Gold gab ich für Eisen
Bildquelle: Volksopfer 1813 (Arthur Kampf)

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Autor
Nicole Marion Müller

Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013