Schwarzer Absatzschuh

Artefakte moderner Archäologie

Schwarzer Absatzschuh

110 x 110 x 80mm
Kunstleder
Fundort: Duisburg
gefunden am 25. Juli 2010

Der Schuh wurde am Tag nach der Loveparade in Duisburg auf dem Veranstaltungsgelände gefunden. Er ist schwarz und nur noch zur Hälfte erhalten. Eine bewegende Geschichte verbirgt sich hinter ihm.

In Erinnerung an die Loveparade in Duisburg

Eigentlich sollte es ein ganz normaler Arbeitstag werden. Ich ging also zum Veranstaltungsgelände, auf dem die Loveparade am Abend vorher stattgefunden hatte. Um 8 Uhr begann ich meine Arbeit und räumte mit meinen Kollegen das Gelände auf. Ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Dinge erwartete uns: Alte Flaschen, Papier, Bahntickets, ja sogar viele persönliche Dinge, wie ein Schal, eine Kette, oder ein Foto haben wir gefunden. Wir arbeiteten uns vor in Richtung Tunnel. Es war bereits 10:30 Uhr. Plötzlich fand ich einen Teil eines Schuhs. Die Spitze war nicht mehr auffindbar. In der Nähe lag kein passendes Stück, was den Schuh zu seiner Vollständigkeit hätte ergänzen können. Ich begutachtete den Rest des Absatzschuhs und hielt für einen kurzen Moment inne: die schrecklichen Bilder vom gestrigen Abend zogen an meinem inneren Auge vorbei. Ein schrecklicher Tag für all diejenigen, die mitten im Gedränge waren und sich verletzten, ja sogar Todesangst hatten. Es war mir unangenehm, mich unweit des Ortes aufzuhalten, an dem 21 Menschen starben (cf. Schaller 2010). Ihnen wurde die Luft genommen, die sie so dringend zum atmen gebraucht hätten. Und nun fand ich genau an dieser Stelle den Schuh. Der Schuh warf in mir eine Vielzahl von Fragen auf: Lebt die Person noch, der der Schuh gehörte? Wem hat er gehört? Was war wohl mit dem Schuh passiert? Warum ist er wohl so kaputt? Wo ist die andere Hälfte? Wo ist der andere Schuh dazu? – unzählige Fragen quälten mich. Ich versuchte eine Antwort zu finden und schaute mir den Schuh genauer an.

Er ist aus schwarzem Kunstleder. Ein robuster, recht stabiler Absatz ist noch vorhanden. Zu sehen ist, dass er schon eine ganze Weile getragen wurde. Nähte verzieren ihn. Der Reißverschluss ist nur noch zur Hälfte erhalten. Ich erkenne die verschiedenen Schichten, die sich im Schuh verbergen. Zwischen all den Lagen drängt ein Metallstab hervor. Er ist flach, ein wenig verrostet. Normalerweise sieht man ihn nicht. Der Schuh offenbart von sich selbst Dinge, die sonst so nicht zum Vorschein kommen würden. Er wirkt sehr anmutig und dominant, so, als wolle er uns etwas mitteilen. Vielleicht ein Hilfeschrei? Das Mädchen, das den Schuh getragen hat, muss ihn wohl im Gedränge verloren haben. Vermutlich ihre Lieblingsschuhe, denn sie schien sie oft getragen zu haben. Sie sehen bequem aus. Teuer sind sie nicht gewesen, denn die Marke Graceland, die noch deutlich zu erkennen ist, ist eine günstige Marke für junge Leute. Große Füße hatte die Trägerin des Schuhs allem Anschein nach auch nicht, denn das Fußbett sieht sehr schmal und klein aus. Ich schätze Größe 38. Doch was ist dem Schuh zugestoßen? Warum ist er so kaputt?

Ich kann mir das so richtig vorstellen, wie die Menschenmassen gedrückt und gedrängelt haben. Nachdem die Besitzerin den Schuh verloren hatte, geriet er irgendwo in die Massen. Die Menschen haben ihn niedergetrampelt, sind an ihm hängengeblieben und haben ihn so Stück für Stück immer weiter kaputt gemacht. Ihnen war sicher nicht bewusst, dass sie gerade einen Schuh zerstören, denn alle hatten ja nur ein Ziel: sie wollten zur Loveparade, um sich einen schönen Abend zu machen. Eine solch nebensächliche Sache, wie einen Schuh interessiert in diesem Moment natürlich kaum jemanden. In mir aber hat er Gefühle ausgelöst, die mich nachdenklich machten. Erzählte er mir doch so viel von dem tragischen Tag. Als Erinnerung an all das, was passiert ist – im Gedenken an die Loveparade 2010 – habe ich den Schuh mitgenommen. Ich habe ihn nicht weggeworfen und auch nicht zu den vielen anderen Fundsachen gelegt. Dafür ist er mir viel zu wertvoll. Zu gebrauchen ist der Schuh ohnehin nicht mehr. Für mich aber hat er eine besondere Bedeutung. Er erinnert mich immer wieder an das, was passierte. Es ist doch oft so, dass sich nach einer Weile keiner mehr für das Thema interessiert, obwohl doch ausführlich in den Nachrichten berichtet wurde und noch Tage später alle Menschen bewegte. Heute, 2011, spricht keiner mehr über das Thema. Die Toten: scheinbar vergessen – die Verletzten: geheilt? Doch bleiben sie durch diesen Schuh für immer in meinem Gedächtnis.

Das Mädchen: eine imaginäre Person? Lebt sie? Ist sie gesund? Vermisst sie ihren Schuh? Sucht sie ihn?

Literatur:
Schaller, Rainer (2010): dokumentation-loveparade. Berlin.

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Autor:
Anne Krumbholz

Foto:
Anne Krumbholz