Artefakte moderner Archäologie
Medaillon
40 x 24 x 5 mm
Silber Fundort: Leipzig
gefunden am 26. März 2011
Das Medaillon ist silbern und trägt auf der Vorderseite eine florale Gravur. Im Inneren befindet sich das Schwarz-Weiß-Foto einer jungen Frau. Gefunden habe ich es im Innenfutter einer alten Tasche, die ich auf dem Trödelmarkt erstanden habe.
Eingenähte Erinnerung
»Dreißig.« Ich geb Ihnen zwanzig. » Fünfundzwanzig.« Okay. Gekauft. Die Tasche gehört mir. Ich bin auf dem Westpaket in der Karl-Heine-Straße in Leipzig und halte diese kleine echtlederne Umhängetasche in meiner Hand, die ich soeben erstanden habe.
Als ich später zuhause bin, wird sie gleich inspiziert – innen zwar schon etwas verschlissen und offensichtlich oft getragen, aber sonst in bestem Zustand. Beim Erkunden der einzelnen Fächer, spüre ich unter dem Innenfutter einen harten Gegenstand. Was mag das sein? Ich suche nach einem Loch in dem Stoff, aber ohne Erfolg. Irgendwie muss es doch da hinein gekommen sein. Ich werde neugierig, was sich in meiner neuen alten Tasche befindet und fasse mir ein Herz – ich trenne das Futter an einer Stelle auf. Es ist ein Medaillon. Ohne Kette, nur der Anhänger. Ein silbernes, ovales Medaillon, vielleicht daumengroß und mit floralen Gravuren auf der Vorderseite. Wie kommt das hier rein? Ich öffne den Anhänger und finde tatsächlich ein Bild eingesetzt. Das schwarz-weiße Portrait einer mir unbekannten jungen Frau. Der andere Rahmen ist leer. Wer mag das sein? Und wie kommt das Medaillon in das zugenähte Innenfutter der Tasche?
Mir fällt ein, wie meine Uroma mal erzählt hat, dass sie Dinge wie Geld oder Schmuck im Innenfutter von Taschen und Koffern oder im Saum ihrer Kleider versteckt haben, als sie im Juni 1945 aus dem Sudetenland vertrieben wurden. Besonders wertvoll sieht dieses Medaillon jedoch nicht aus. Und auch noch nicht so alt. Ob es absichtlich zugenäht wurde, um es zu verstecken, es irgendwohin mitzunehmen? Wohin? Und wieso ist diese Tasche nun doch bei mir gelandet? Samt diesem Medaillon?
Ich werde daraus nicht schlau, bin aber neugierig geworden. Wenn es jemand weiß, dann vielleicht die Verkäuferin der Tasche. Ich gehe also zurück zum Westpaket und sie ist zum Glück noch da. Als ich ihr das Medaillon zeige und erkläre, wie ich es gefunden habe, erkennt sie zwar den Anhänger nicht wieder, wohl aber die Frau auf dem Foto. Es ist ihre Tante. Sie selbst hat das Medaillon im Futter der Tasche nie bemerkt und auch nicht selbst dort eingenäht. Sie hat die Tasche im Keller ihrer Eltern gefunden und sie meint sich zu erinnern, dass sie mal ihrer Tante gehört hat. Sie erzählt mir, wie ihre Tante 1977 über Ungarn aus der DDR in die Türkei geflohen ist. Im Kofferraum eines Autos versteckt, dass ihr ungarischer Freund gefahren hat, den sie später auch gehreitatet hat. Wahrscheinlich musste sie so wenig Gepäck wie möglich mitnehmen und hat das Medaillon versteckt, um es sicher zu wissen. Seitdem leben sie in Kanada.
Allein in der Zeit von 1961 bis 1989 flohen mehr als 1,25 Millionen Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik. Die meisten kamen in den Jahren, als die Mauer gebaut wurde und als sie fiel.
Rund 300.000 Ostdeutsche flohen von 1961 bis 1989 „illegal“ in den Westen. Die meisten kehrten von Westbesuchen nicht zurück. Manche versuchten, die Berliner Mauer zu überwinden, andere durchschwammen unter Lebensgefahr die Spree oder die Elbe von Ost nach West. Besonders Einfallsreiche bauten selbst Ballons, Flugzeuge oder sogar U-Boote, um in den Westen zu kommen. Über die Ostsee kamen ebenso Flüchtlinge in den Westen, wie über die Westgrenzen von Ländern, in die DDR-Bürger reisen durften (CSSR, Ungarn, Rumänien, Bulgarien). Aber auch in westlichen Autos und LKW wurden DDR-Bürger verborgen in den Westen „geschmuggelt“.
So ähnlich wie die Frau in meinem Medaillon.
Als ich der ursprünglichen Taschenbesitzerin meinen Fund überlassen will, da es sich ja schließlich um ihre Familie handelt, wehrt sie ab. Ich solle das Medaillon behalten, es gehöre schließlich zur Tasche. Und seitdem trage ich immer ein Stück Geschichte mit mir herum.
Quellen
Flucht unter Lebensgefahr (Bundeszentrale für politische Bildung)
DDR in Zahlen
Autor
Schröter, Henriette
Fotos
Schröter, Henriette