Zweitschlüssel
19 × 38 × 12 mm
Stahl
Fundort: Meißner Straße 38, Neustadt-Neuschönefeld
Funddatum: 04. Juni 2014
Dieser Schlüssel mit einigen Korosionsspuren auf der Oberfläche wurde in einer Wohnung in der Meißner Straße, nahe der Neustädter Kirche gefunden. Er hat einen Materialwert von einigen Cents und kann einen Schaden im vierstelligen Betrag verursachen. Es sei denn, man hat vertrauenswürdige Nachbarn.
Als ich meine Entdeckungstour rund um den Neustädter Markt begann, kam ich mir zunächst ein wenig orientierungslos vor. Wie ein Markt- platz sah es für mich nicht gerade aus. Schließlich erreichte ich die Heilig-Kreuz-Kirche und beschloss, hier erst einmal mein Fahrrad ab- zuschließen. Ich sah mich nach einem guten Stellplatz um und hörte auf einmal: „Hier links sind die Fahrradständer“. Eine ältere Dame, die ich nicht bemerkt hatte, saß auf einer Bank vor der Kirche. Sie lächelte freundlich. „Vielen Dank!“, antwortete ich und lächelte zurück. „Woh- nen Sie hier?“ Sie bejahte und das war der Beginn einer wunderbaren Unterhaltung.
Die Dame erzählte mir, dass sie schon seit mehr als 20 Jahren in einer Zweiraumwohnung der Meißner Straße wohnt. Diese konnten wir bei- de von unserer Bank aus sehen. Ich erzählte ihr von dem Kunstprojekt, welches der Anlass für meinen Besuch in der Gegend war. Das The- ma „Nachhaltige Nachbarschaft“ weckte ihr Interesse. „Oh ja, das ist wirklich ein Glück, wenn man mit seinen Nachbarn auch nach so vie- len Jahren noch gut auskommt. Ich habe viele Bewohner kommen und gehen sehen, aber nach der Sanierung meines Wohnhauses freue ich mich auch, den jüngeren Mietern ab und an zu begegnen. Sie bringen Leben ins Haus!“, fuhr sie fort. Schließlich kamen wir auf das Thema Einbrüche zu sprechen, die ja in dieser Gegend fortwährend in den Medien zu lesen sind. Das stimmte sie nachdenklich. Ihr selbst wäre noch nie so etwas passiert, aber sie kenne einige schlimme Geschichten aus der Nachbarschaft. Ich erzählte ihr, dass auch ich bereits kurz nach meinem Einzug damit schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Bei mir wurde damals im Keller eingebrochen, in dem ich auch unglücklicherweise meinen Zweitschlüssel der Wohnung deponiert hatte. Die Kellerdiebe hätten also auch fast meine Wohnung ausgeräumt, wenn ich das nicht rechtzeitig bemerkt hätte. Das Endprodukt war schließlich, dass ich das komplette Schließsystem des Hauses aus eigener Tasche bezahlen musste, denn eine Hausratversicherung hatte ich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Sie sprach ihr Mitgefühl aus und vertraute mir an, dass sie ihren Zweitschlüssel einer guten Freundin zwei Häuser weiter gegeben hatte, die sie schon sehr lange kannte. Schließlich sprachen wir da- rüber, wie viel Vertrauen man doch einem Menschen schenkt, wenn man ihm seinen Wohnungsschlüssel übergibt. Ich kannte damals noch niemanden in Leipzig, dem ich meinen Schlüssel geben konnte. Und sie kennt ihre Freundin schon so lange, dass die vielen Geschichten, die sich beide anvertraut hatten, im Vergleich zum Schlüssel einen viel größeren Vertrauensbeweis darstellten. Ich selbst hatte einmal gelesen, dass man seinen Zweitschlüssel sogar bei Firmen hinterlegen kann, die damit werben, dass man seinem Nachbarn nicht mehr trauen kann. Traurige Angelegenheit. Die ältere Dame fuhr fort, dass sie selbst auch schon für viele Menschen auf den Zweitschlüssel Acht geben sollte, von denen sogar einige bereits verstorben waren. Ob es Freunde, Verwand- te oder sogar nur Nachbarn waren, spielte dabei keine Rolle. In der heutigen Zeit passiert es aber nur noch selten, dass Menschen ihren Nachbarn den Wohnungsschlüssel übergeben. Bei meinen Recherchen zu diesem Thema fand ich eine Umfrage von „immowelt“, die Nachbarn mit Zweitschlüssel nur bei 13,4% in Deutschland angeben.
Die Dame meinte, dass der Grund dafür darin lag, dass man früher stärker auf seine Nachbarn angewiesen war, als in der heutigen Zeit. Die Schwierigkeit, Kinder, Beruf und Haushalt unter einen Hut zu be- kommen, führte dazu, dass Nachbarn damals unersetzlich waren. Den Zweitschlüssel aufzubewahren war da nur das geringste. Auch auf die Kinder aufzupassen, das Aushelfen mit Lebensmitteln oder andere Gefälligkeiten waren Gang und Gebe. Sie erzählte weiter, dass ihre Nachbarn vielmehr ihre Freunde waren, denn aufgrund fehlender Fortbewe- gungsmöglichkeiten hatte sie den Arbeitsort gleich nahe dem Wohnort und beschäftigte sich somit ausschließlich mit den Menschen aus ihrer Umgebung. Heute kommt es nur noch selten vor, dass man seinen Nachbarn nach etwas Mehl fragt, geschweige denn ihm seinen Hausschlüssel anvertraut. Ich erklärte ihr, dass ich aufgrund unterschiedlicher Terminzeiten einige Bewohner meines Wohnhauses nie sehe, andere hingegen nur selten und so kurz, dass keine Gespräche entstehen könnten. „Heute gibt es ganz andere Arten der Kommunikation. Wenn man Redebedarf hat, ruft man Freunde oder Verwandte an und ist nicht mehr auf sei- ne Nachbarn angewiesen. Wenn man jemanden braucht, der auf den Wohnungsschlüssel aufpasst, fährt man mit dem Auto zur guten Freundin im anderen Stadtteil. Außerdem hat man heute weniger Zeit für seine Mitmenschen. Die heutige Generation hetzt nur noch von einem Termin zum nächsten und der Mensch hat kaum mehr Zeit für sich selbst“, fasste sie zusammen. Ich sah auf meine Uhr. Lächelnd erklärte ich ihr, dass auch ich mich so langsam wieder auf mein Rad schwingen müsste. „Ich habe noch etwas für dich, warte hier kurz“, sagte sie freundlich und ging in ihr Wohnhaus.
Einen Augenblick später kam sie wieder. Sie drückte mir einen alten Schlüssel in die Hand. Der Zweitschlüssel ihrer ersten Wohnung in Leipzig. Ich bedankte mich herzlich und machte mich auf den Weg. Der kühle Fahrtwind blies frische Luft durch meine Gedanken und ich wusste nun, dass ich viel mehr mit nach Hause nehmen würde, als diesen rostigen Schlüssel. Denn er würde mich immer an diese Unterhaltung erinnern.
Literatur- und Quellenverzeichnis
Umfrage zum Zweitschlüssel
Werbung gegen das Vertrauen zu Nachbarn
Informationen zum Nachbarschaftsverhältnis früher und heute
Autor
Marie Weber