Flaschenöffner

Artefakte moderner Archäologie

Flaschenöffner
41 × 81 × 5 mm
Metall
Fundort: Trebsen, Landkreis Leipzig
gefunden am: 9. April 2011

Das Fundstück, ein metallener, teils rostiger aber gebrauchsfähiger Flaschenöffner, wurde in einem leerstehenden Kuhstall, in der Kleinstadt Trebsen, von zwei Teenagern entdeckt.

„Jule, wo bist du?“ Mit meiner kleinen LED-Taschenlampe leuchte ich in Richtung Tür. Es ist dunkel und überall wirbelt Staub umher. „Ju-li-a?“ Zuerst höre ich das dumpfe Knacken der Holzdielen, kurz darauf antwortet sie. „Vor der Schiebetür ist ein Schloss, da kommen wir nicht hinein!“ „Hier liegt aber ganz viel alter Kram herum, vielleicht finden wir ja den passenden Schlüssel.“
Julia und ich mögen es, leerstehende Gebäude aufzusuchen, um Spuren der Vergangenheit zu entdecken. Am Liebsten sind wir bei Nacht und Nebel unterwegs, denn der Gruselfaktor spielt eine schwerwiegende Rolle.
Manchmal sehen wir verschlissene Tapeten mit bleichen Mustern, die von den Wänden herabhängen. Häufig finden wir alte Zeitungen, Koffer, Kisten, Flaschen, Kleidungsstücke und hin und wieder sogar persönliche Briefe, Ansichtskarten oder Fotos.
An diesem Abend erkunden wir einen brüchigen Stall, einen ehemaligen Kuhstall in der Kleinstadt Trebsen. Der klebrige Fußboden, die staubigen Spinnweben an den kleinen weiß-grauen Fensterrahmen, der Geruch von Feuchtigkeit und Fäulnis… und die nächtliche Stille fesseln unsere Sinne.
Zwischen unzähligen Regalen, die mit leeren Einweckgläsern, Papierrollen, Eisenstangen und Holzstäben gefüllt sind, steht eine Werkbank mit Schraubstock und einem kleinen Holzschemel davor. Ich öffne Schubladen und Schiebetürchen. Ich finde blassgraue Pappkartons, kleine und größere Kästchen gefüllt mit Schrauben, Muttern und Nägeln. Vielleicht finde ich den Schlüssel ja hier. Ich bahne mir meinen Weg durch Staub, Schmutz und wertlose Gegenstände. Gerade in dem Moment, indem ich meiner Freundin zurufen will, dass es hier wohl nichts Spannendes zu entdecken gäbe, fällt mir beim Öffnen einer unscheinbaren Kiste ein metallener Gegenstand in die Hände.

Ein Flaschenöffner. Gar nicht so kitschig wie die meisten, die man heute im Laden findet. Schlicht, aus Metall. Allein dazu bestimmt, Flaschen zu öffnen. Nie vorher habe ich mir Gedanken über Flaschenöffner gemacht, aber dieser hier gefällt mir. Ich denke nach über die Hebelwirkung, die bei diesem Gegenstand eine fundamentale Rolle spielt. Simpel, denke ich. Ich kenne ein paar Jungs, die öffnen ihre Bierflaschen mit den Zähnen. Ich hingegen werde das nie tun. Zu gut erinnere ich mich an meinen letzten Fahrradunfall. Überschlag. Schneidezahn kaputt. Nur Dank modernster Zahnmedizin kann ich heute unbekümmert lächeln. Feuerzeuge oder Tischkanten eignen sich schon eher, um Bierflaschen zu öffnen. Aber warum mach ich mir darüber überhaupt Gedanken? Ich mag nämlich gar kein Bier.

Soll ich den Öffner wieder zurücklegen? Vielleicht findet ihn mal jemand, der ihn wirklich gebrauchen kann. Aber nein. Das ist mein erster richtiger Schatz. Und so beschließe ich, ihn mit nach Hause zu nehmen.

Am nächsten Tag präsentiere ich das Fundstück erwartungsvoll meinen Eltern. Diese wollen mir doch tatsächlich weismachen, dass es sich bei meinem Schatz um ein Massenprodukt aus der DDR handelt. Nichts Besonderes also? Der Sache muss ich nachgehen.

Auf der Suche nach Anhaltspunkten zur Herkunft meines Objektes entdecke ich auf der Oberseite des Öffners Vertiefungen. Obwohl der Öffner von Rost befallen ist, kann ich die eingestanzten Zeichen ohne Mühe erkennen. „EVP0,15“ Was mag das bedeuten? Wikipedia entschlüsselt die Buchstabenkombination. EVP steht als Abkürzung für: Europäische Volkspartei, Evangelische Volkspartei in der Schweiz, Electronic Voice Phenomenon, Einzelhandelsverkaufspreis in der Deutschen Demokratischen Republik,… Aha, da wäre auch der Bezug zur DDR.
Der EVP war in der DDR der staatlich vorgeschriebene Festpreis für ein Produkt. Dieser Preis war im ganzen Land gleich, blieb über lange Zeiträume unverändert und wurde deshalb auf die Verpackung oder, wie in meinem Fall, direkt auf die Ware aufgedruckt. EVP0,15 verrät mir also, dass dieser Flaschenöffner 15 Pfennige gekostet hat. Zum Vergleich: ein Mosaik Heft kostete 60 Pfennige, eine 0,5l Flasche Pilsner immerhin 92 Pfennige und ein Farbfotoabzug 9x13cm 2,25 Mark. Meine Eltern haben also tatsächlich Recht… So gering hatte ich den Wert meines Objektes wirklich nicht eingeschätzt. Bei meiner weiteren Recherche erfahre ich jedoch auch, dass in der DDR viele Gebrauchsgüter unter ihrem tatsächlichen Warenwert verkauft und staatlich bezuschusst wurden. Sicher gehört mein Flaschenöffner in diese Rubrik.
Betriebe und Kombinate produzierten die Konsumgüter der DDR. Ich vermute, dass mein Fundstück in einem der volkseigenen Betriebe hergestellt wurde. Vielleicht sogar ganz in der Nähe im VEB Kombinat Gießereianlagenbau und Gusserzeugnisse (Gisag) in Leipzig.

Doch nicht nur, wo mein Öffner hergestellt wurde- nein auch, wem er gehört haben könnte, wüsste ich zu gern.
Meine Gedanken gehen zu dem Stall zurück. War der Kuhstall vielleicht Eigentum eines kleinen Familienbetriebs, der nach der Wiedervereinigung von Ost und West zerbrach? Welches Bier mögen die Stalljungen sich zum Feierabend wohl gegönnt haben? Wie oft mag dieser Öffner wohl schon zum Einsatz gekommen sein?

Bei all meinen Überlegungen überkommt mich plötzlich ein außergewöhnlicher Durst. Ich möchte etwas trinken.. etwas Süßes, Erfrischendes. In einem Regal unserer Vorratskammer finde ich eine lipz Schorle. Schwarze Johannisbeere. Ich gehe in die Küche um nach einem Öffner zu suchen als mir einfällt, dass ich doch nun meinen eigenen Flaschenöffner besitze.
Da ist er, der große Moment!
Ich setze meinen Flaschenöffner an der Unterkante des Deckels an, ziehe den Hebel langsam nach oben, höre ein Zischen und genieße kurz darauf den ersten erfrischend fruchtigen Schluck meiner Schorle.
Mein Flaschenöffner ist zwar alt, rostig und gerade einmal 15 Pfennige wert, doch eines kann er noch immer ganz hervorragend…

Quellen

Link zu: Einzelhandelsverkaufspreis in der DDR

Link zu: Volkseigene Betriebe/ Kombinate

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Autor

Dietrich, Marlen