Zerfallender Deckel

Artefakte moderner Archäologie

Zerfallender Deckel
89 x 98 x 49 mm
Eisen
Fundort: Poetenweg bei Sorga
Funddatum: Frühjahr 2011

Der ehemals blaue, stark oxididierte Metalldeckel wurde im Frühjahr in der Pöltzsch gefunden. Wahrscheinlich wurde er mit der Schneeschmelze aus den Abbruchresten einer bachaufwärts liegenden Mühle gespült und fand sich in einer Biegung des Flusses.

Wie ein Fremdkörper stand die Mühle zwischen den Bäumen. Bis vor zwei Jahren trennte sie den zweiten vom dritten Poetenweg.¹ Doch das feuchte Klima, welches die direkt am Haus vorbeifließende Pöltzsch mit sich bringt und die lange Zeit des Leerstehens forderten ihren Tribut, so dass das Gebäude vor zwei Jahren abgerissen wurde, und die Fläche nun nach und nach von der Natur zurückgewonnen wird. Seitdem findet man flussabwärts verschiedene Gegenstände, die der Bach dem Bauschutt entrissen hat. So auch diesen Deckel. In einer Schleife im Flussbett etwa zwei Kilometer stromabwärts sammelt sich Treibgut an einer kleinen Sandbank. Vor allem der Kontrast zwischen der noch vorhandenen, leuchtend blauen Farbe des Deckels und den rostigen und löchrigen Stellen im Metall gaben dem Objekt ein ins Auge stechendes Aussehen. Psychologisch betrachtet also ein typischer Bottom-up Prozess.²
Interessanter Weise finden sich seitdem auf meinen Radtouren und Spaziergängen zunehmend rostige Gegenstände. Seien es kleine Dinge wie Flaschen oder Dosendeckel oder auch ganze Fahrräder oder Stacheldrahtrollen. Normalerweise lässt man solche Gegenstände unbeachtet liegen. Doch durch die Sensibilisierung der Sinnesorgane für ebensolche Artefakte wird die Aufmerksamkeit auch auf solche unauffälligen Objekte gelenkt. Hier ist es also genau umgekehrt. Kein Bottom-up Prozess wie beim Deckel, sondern ein Top-down Prozess, bei dem die selektive Aufmerksamkeit des Sinnesapparates von kognitiven Prozessen beeinflusst wird.³ Normalerweise werden irrelevante sensorische Informationen herausgefiltert, um das Arbeistgedächtniss nicht zu überlasten.⁴ In diesem Fall führt die Konzentration auf eigentlich unwichtiges, also Objekte, die einem bestimmten mentalen Schema, das zum Beispiel über Eigenschaften der Form und Farbe definiert ist, ähneln, zu einer bewussten Verarbeitung des Gesehenen.
Die dank dieser Abläufe gefundenen rostigen Artefakte verweisen noch auf einen anderen Prozess. Der von Menschen aus eisenhaltigen Mineralien gewonnene Rohstoff, egal ob zu einem Deckel oder einem Fahrrad geformt, kehrt durch natürliche Prozesse in einen natürlichen Zustand zurück. Eisen wird zu Rost, hauptsächlich also zu Eisen (II) und Eisen (III) – Oxid, wie es auch in natürlichen Mineralien vorkommt.⁵ Natürlich beginnt die Geschichte des Elements mit der Ordnungszahl 26 nicht in Erzvorkommen auf der Erde. Eisen ist das Endprodukt, also das schwerste Element das exotherm durch die Fusionsprozesse im Inneren von Sternen entsteht.⁶ Aus dem viel zitierten „Sternenstaub“ findet es schließlich den Weg ins All, auf Planeten und wird Bestandteil lebender Organismen.⁷ Damit ist seine Existenz letztendlich Bedingung dafür, dass dieser Text, diese Ausstellung  und die Gedanken darüber existieren.
Der Deckel ist damit gleichsam Symbol für die Verarbeitung, Nutzung und Bedeutung des Metalls für den Menschen, als auch Hinweis auf den natürlichen Kreislauf von Veredlung und Zerfall.

Literatur
1) Die Wanderwege an der ehemaligen Lenkmühle werden unter anderem in: Sparkasse Vogtland (Hrsg.): Wandern, Sehen und Erleben im Vogtland. Plauen 2001, S. 113 beschrieben.
2) Vergl. Zimbardo, Philip:Psychologie, Berlin u.a. ⁶1995, S. 200f.
3) Vergl. Ebd.
4) Vergl. dazu Broadbents Filtertheorie der Aufmerksamkeit in: Zimbardo, S. 227.

Links
5) Wikipediaartikel Rost
6) weltderphysik.de
7) biorama.ch

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Autor
Christian Gerisch