Der zerfallene Zwilling

Fundstücke 1000 Jahre Leipzig

Der zerfallene Zwilling
30 x 40 x 2 mm
Schmetterling
Fundort: Berlin
Funddatum: 15. August 2005

Dunkle Straßen, drei parkende Autos, der Lichtkegel einer Laterne in der Ferne. Die beiden eineiigen Zwillinge liefen die Straße hinunter, schauten sich immer wieder um. Keiner der beiden bemerkte den dunklen, sich stetig nähernden Schatten. 

Wir schreiben das Jahr 1961, für die beiden Zwillinge war der 12. August ein ganz normaler Arbeitstag. Wieder ein langweiliger, langatmiger Arbeitstag ohne besondere Vorkommnisse. Ihr Leben war vom System vorbestimmt. Sie waren nur ein kleiner, niederer Teil der Nahrungskette. Täglich spürten sie den Unmut über ihre Lebensart größer werden. Früher hatten sie alles geteilt, es gab kein Konkurrenzverhalten zwischen den beiden, doch diese Zeiten sind längst vorbei. Dennoch, auch diesen Abend liefen sie zusammen von der Arbeit nach hause. Keiner der beiden bemerkte den sich ständig nähernden, immer größer werdenden Schatten um sie herum. Die dunklen Straßen machten es schwer, etwas zu erkennen. Die Laterne, ein kleiner Lichtkegel in der Ferne, ließ sie nur die Richtung erkennen. Ringsum sie düstere Stille. Plötzlich hörten sie Schreie, sie schienen fern zu sein, nichts Besonderes. Doch sie wurden immer lauter, keiner der beiden konnte sie jetzt noch ignorieren. Bald waren die Schreie dicht an ihren Ohren, ein Gefühl der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit machte sich breit. Sie fingen an zu schneller zu laufen, sie rannten die Straße entlang. Der eine Bruder schneller als der andere, er hörte die verzweifelten Schreie seines Zwillings, gefangen hinter der riesigen Mauer, die alles verschluckte , nicht mehr.

Leonard Scheffler

Fundstücke 1000 Jahre Leipzig