Bruchstück

Fundstücke 1000 Jahre Leipzig

Bruchstück
75 x 80 x 1 mm
Glas
Fundort: Straße
Funddatum: 9. November 1938

Am 9. November 1938 war mein Opa gerade einmal sieben Jahre alt. Nichtsdestotrotz hat sich diese Nacht in sein Gedächtnis gebrannt, wie keine andere. Eine Scherbe Glas, gefunden vor einer Synagoge, die vor seinen Augen in Flammen aufging, hütete er von da an wie einen Schatz. Eben jenes Fundstück überließ er mir mit den Worten, vergangenes Unrecht nie zu vergessen. 

Das Novemberpogrom markiert den Übergang von der Diskriminierung der Juden in Deutschland zur systematischen Verfolgung. Das Attentat durch einen Juden auf einen deutschen Diplomaten in Paris nahm sich die Führung der NSDAP zum Vorwand, eine antisemitische Kampagne einzuleiten, welche über die Jahre unvorstellbare Ausmaße annahm. Für die Stadt Leipzig ist die Nacht vom 9. auf den 10. November eine ihrer dunkelsten Stunden. Wie zeitgleich überall in Deutschland wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert, Inhaber und Bewohner geprügelt, ermordet, teilweise in den Selbstmord getrieben, Synagogen, Betstuben und jüdische Friedhöfe zerstört und in Brand gesteckt. Ein Massaker, das im Nachhinein durch das NS-Regime den höhnischen Titel »Reichskristallnacht« erhielt, in Erinnerung an das Licht der Flammen, welches sich in den Glasscherben der eingeschlagenen Schaufensterscheiben spiegelte.
Mein Opa, zu jener Zeit ein kleiner Junge, beobachtete in dieser Nacht, wie die Synagoge in der Gottschedstraße vollständig herunter brannte, ohne zu verstehen, zu welchem Zweck das ansehnliche Gebäude, das er jeden Morgen auf seinem Weg zur Schule sah, fallen musste. Ebenso wenig verstand er warum die jüdische Familie von nebenan am nächsten Morgen spurlos verschwunden war und nie wiederkehrte. Damals wusste er nicht recht, was ihn dazu bewegte, das einfache Stück Glas nach einiger Zeit nicht schlicht wegzuwerfen. Heute ist er sich dessen Bedeutung umso bewusster.

Sarah Kaden

Fundstücke 1000 Jahre Leipzig