Quartettkarte

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Nachbarschaft

Quartettkarte

70× 100 mm
Karton, bedruckt
Fundort: Leipzig, Kapellenstraße 6
Funddatum: 23. September 2013

Das unvollständige Quartett »Meister Nadelöhr« ist mir bei meinem Wiedereinzug in Leipzig im September letzten Jahres in die Hände gefallen. Die ausgestellte Karte »E4« ist die einzige des Quartetts E, da die Karten »E1« bis »E3« fehlen.

Nach eineinhalb Jahren des Reisens und Lebens aus nur einem Rucksack war ich zu meiner Rückkehr von den Ansammlungen in meinem Zimmer schier überfordert. Sicherlich, ich hatte all dies selbst angesammelt, aber jetzt musste alles Unnütze raus. Doch was ist »Unnützes«? Wie trenne ich den Kitsch von den mir wertvollen Erinnerungsträgern? Oder viel mehr: brauche ich überhaupt Memorabilia, oder erinnere ich mich auch von allein an meine Kindheit und bestimmte Erlebnisse, Freunde und Nachbarn?

Gleich als mir das Spiel in einem hellblauen Gefrierbeutel entgegen rutschte, erinnerte ich mich, dass dies ursprünglich die Karten meiner Mutter waren. Ich schaute sofort genauer hin und bemerkte, dass drei Karten fehlten. Wie das? Meine Mutter ist doch immer so sorgsam? Bei einem folgenden Elternbesuch, sprach ich meinen Fund am Kaffeetisch an und es folgte eine Erzählung, gezeichnet von vielen kindlichen Erinnerungen und mindestens genauso vielen Abschweifungen und Fotos, die ihren Ursprung nur ein paar Straßen von meinem heutigen Leipziger Wohnsitz haben. Hier einige Auszüge aus dem Gespräch:

Erinnerungen an Nachbarschaft
»Hach, dass du das noch hast! Da erinnere ich mich noch gut dran, das war immer mein Lieblingsspiel. Eigentlich sind das ja die Figuren aus einer Fernsehsendung für Kinder, wo Märchen erzählt wurden und Pittiplatsch und so, die kennst du ja noch vom Sandmann. Aber wir hatten nie einen Fernseher, da musste ich später heimlich bei Tante Erna und Tante Else schauen, wenn die Oma gearbeitet hat. Ha! [lacht] Wie ich diese Karten geliebt habe! […] Ach ja genau, wieso die unvollständig sind… Also, das Spiel habe ich von Elke und Evelin, die sind damals als Kinder mit den Großeltern zu uns ins Haus gezogen. Wo genau die Elke und die Evelin herkamen weiß ich nicht mehr, aber die Mama war früh gestorben und mit dem Vater… ach daran kann ich mich nicht erinnern. Ich hab mich damals jedenfalls sehr gefreut endlich ein paar Mädchen im Haus zu haben… Du musst dir vorstellen, so toll wie heute sahen die Häuser damals nicht aus. Vieles war kaputt und zerfiel irgendwie, unsere Nachbarn hatten damals nicht mal ein richtiges Dach, es war alles mit Planen und Latten irgendwie abgedichtet. Wenn es dann geregnet hat… Oje, da mussten sogar wir Kinder mit ran und Eimer verteilen und auslehren, die das tropfende Wasser auffingen. Wenn ich mir das heute überlege… Ich glaub damals als Kinder war uns das nicht so bewusst, denn wir kannten es ja nicht anders. Aber wie gesagt, unser Viertel war eben einfach heruntergekommen, ständig kamen neue Leute und das waren ja auch nicht grad die Reichesten. Naja, Bahnhofsnähe eben. Immer ein Kommen und Gehen, alles in ständigem Wechsel. Das ist ja heute auch nicht anders, sehe ich ja, wenn wir dich besuchen. Naja und zum Spielen sind wir ja sowieso lieber raus gegangen, in den Hinterhof, da hatten wir Platz und haben keine Erwachsenen gestört.«

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Erinnerungen an das Quartett
»Ja, und die beiden [Evelin und Elke, Anm. d. A.] haben eben das Kartenspiel mitgebracht. Und ich habe es GELIEBT. Wirklich. Ich habe auch immer gebettelt auch so eins zu bekommen, aber leider hat das nicht mal zum Schulanfang geklappt. Dabei haben alle solche Karten bekommen. Ein Quartett mit Sandmann, wo man die Zeit lernen kann oder mit Vögeln, Früchten und Pilzen. Das waren so Lernquartetts. Du musst mal auf den Dachboden gucken, dein Vater hat sowas mitgebracht, da liegt sicher noch mehr. Wir haben jedenfalls immer im Hof oder Garten gespielt und da war auch die Bärbel Liebold dabei, die wohnt jetzt weiter außerhalb. In der Schule waren wir auch bis zur Achten zusammen, auch im Hort. Dort wollte ich auch immer mit dem Quartett spielen. Aber irgendwann ist in der dritten Klasse, das weiß ich noch genau, die Schachtel und die Spielanleitung verschwunden. Oh Mann, da gab es vielleicht Ärger zu Hause. Ab da wurde das Spiel unter Verschluss genommen und spielen durften wir dann nur noch zu Hause.«

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Bloße Erinnerung oder nachhaltige Nachbarschaft?
»Naja und dann waren wir ja irgendwann auch fertig mit der Schule. Da habe ich eine Lehre angefangen und Elke und Evelin sind weggegangen. Das war gar nicht toll, nach so vielen gemeinsamen Jahren. Und stell dir vor, da haben die mir als Erinnerung das Quartett geschenkt! Das war schon lustig. Aber spielen wollte ich zu der Zeit nicht mehr damit und da haben sich Bärbel, Elke und Evelin lachend eine Karte mitgenommen, als Erinnerung sozusagen… Ist schon erstaunlich, was an diesen Karten alles so für Erinnerungen dran hängen. Was heißt dranhängen, ich habe die Erinnerungen ja auch so, aber ab und zu ist etwas kleines, was einen zum Nachdenken bringt, gar nicht schlecht, oder?! Eigentlich etwas schade sogar, wenn ich diese ganzen Bilder hier so sehe, dass es keins gibt wo wir alle vier drauf zu sehen sind. Aber wann wurden denn damals schon groß Fotos gemacht… Und ob es Elke und Evelin wohl noch gibt?… Ha! [lacht] Guck! Hier ist sogar Bärbel drauf, die mit dem komischen Hut. Die Bärbel, die wohnt ja wie gesagt sogar in der Nähe, denn ich hab sie letztens im Laden gesehen. Ha, [grinst] da muss ich doch gleich mal Nachforschungen anstellen.«

Links
Zur Geschichte der Leipziger Neustadt
Weitere Artikel zu Geschichte, Gebäuden, dem Leben der Kinder u.a. in der Neustadt
Über die DDR Kinderfernsehsendung Zu Besuch im Märchenland
Über die ASS, die Altenburger Spielkartenfabrik, die das Quartett ursprünglich produzierte
Das komplette Quartett  und Großaufnahmen einzelner Karten zum Ansehen

Download Objektbeschreibung

Autorin Christina Stiehler

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