Verband

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Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013

Verband

43 × 100 × 43 mm
Baumwolle
Fundort: Leipzig, Zeughaus
Funddatum: 15. Mai 2013

Leipzig, 2013. Die Völkerschlacht jährt sich zum zweihundertsten Mal. Die „Schlacht der Völker“ wird gefeiert und vermarktet. Allen, die in Leipzig leben, ist dieses „Jubiläum“ präsent. In den Tagen vor der großen Feier finde ich beim Stöbern im Leipziger Zeughaus einen alten Verband.

Er sieht aus und riecht, als hätte er mindestens 100 Jahre lang unbeachtet in seiner Schachtel gelegen. Er wirkt auf mich wie ein Relikt vergangener Zeit. Warum ist er übrig, wer hat den Verband womöglich vermisst, als er ihn nötig hatte?

Leipzig, 1813. Im Lazarett wird nicht lange gefackelt. Der Arm wurde von einer Granate zerfetzt, er muss amputiert werden. Da um den Mediziner Johann C. Reil bereits viele andere Verletzte liegen, die auf eine Behandlung warten, macht er es kurz. Er gibt dem Mann einen Schluck Alkohol, dann wird es erträglicher sein. Der Mann fleht um noch einen Schluck, aber mehr ist nicht drin. Er ist noch einer von den Glücklichen, anderen wird ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt. Es nützt alles nichts. Der Arm muss ab. Verbandmaterial ist aus, Leinen aus Salzsäcken tut es zur Not auch, und das hier ist Not.

Die Schlacht bei Leipzig gilt als die größte und blutigste Feldschlacht der Weltgeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. 600 000 Soldaten, die gegeneinander kämpfen. Die Angaben der Opferzahlen variieren stark. Schätzungen reichen bis zu 100 000 Getöteten oder Verwundeten, Zivilisten nicht mitgezählt. Jeder fünfte stirbt in der Schlacht oder erliegt später seinen Verletzungen. Während und nach der Schlacht ist Leipzig ein einziges Trümmerfeld. Die Verwundeten liegen überall, auf den Feldern, in den Straßen. Es werden 56 Lazarette eingerichtet. Doch es mangelt an allem: Pflegepersonal, Medikamente, Bettzeug, Stroh und Lebensmittel sind kaum vorhanden. Typhus bricht aus, allein daran sterben 10 000 Soldaten und 3 000 Leipziger. Es dauert Monate, die abertausend Leichen zu begraben. Über die Situation in den Lazaretten lese ich in einem Brief von Johann C. Reil:

„Man hat unsere Verwundeten an Orte niedergelegt, die ich der Kaufmännin nicht für ihren kranken Möppel anbieten möchte. […] An jenen Orten liegen sie […] alle noch in den blutigen Gewändern, in welchen sie aus der heißen Schlacht hereingetragen sind. Unter 20 000 Verwundeten hat auch nicht ein einziger ein Hemde, Bettuch, Decke, Strohsack oder Bettstelle erhalten. […] Ihre Glieder sind, wie nach Vergiftungen, furchtbar aufgelaufen, brandig und liegen in allen Richtungen neben den Rümpfen. Daher der Kinnbackenkrampf in allen Ecken und Winkeln, der um so mehr wuchert, als Hunger und Kälte seiner Hauptursache zu Hilfe kommen. […] Viele sind noch gar nicht, andere werden nicht alle Tage verbunden. Die Binden sind zum Teil von grauer Leinwand, aus Dürrenberger Salzsäcken geschnitten, die die Haut mitnehmen, wo sie noch ganz ist. In einer Stube stand ein Korb mit rohen Dachschindeln zum Schienen der zerbrochenen Glieder. Viele Amputationen sind versäumt, andere werden von unberufenen Menschen gemacht, die kaum das Barbiermesser führen können und die Gelegenheit nützen, ihre ersten Ausflüge an den verwundeten Gliedern der Krieger zu versuchen. Einer Amputation sah ich mit zu, die mit stumpfen Messern gemacht wurde. […] An Wärtern fehlt es ganz. Verwundete, die nicht aufstehen können, müssen Kot und Urin unter sich gehen lassen und faulen in ihrem eigenen Unrat an. Für die gangbaren sind zwar offene Bütten ausgesetzt, die aber nach allen Seiten überströmen, weil sie nicht ausgetragen werden. In der Petrikirche stand eine solche Bütte neben einer andern ihr gleichen, die eben mit der Mittagssuppe hereingebracht war. Diese Nachbarschaft der Speisen und der Ausleerungen – muss notwendig einen Ekel erregen, den nur der grimmigste Hunger zu überwinden imstande ist.“ (Fesser 2013, 127/128)

Ich schlage die Bücher zu. Schockierend und abstoßend ist das, was ich lese. Verhältnisse, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Eine Stadt im Ausnahmezustand. Ein kurzes Erschauern und dann ein anderes Gefühl. Dankbarkeit. Dass ich diese Zeilen in einem alten Buch lesen kann. Dass ich aus der Distanz auf ein menschenunwürdiges Ereignis blicken kann, das 200 Jahre zurückliegt. Zum Glück lebe ich heute. Den Verband lege ich beiseite.
Jetzt muss ich los. David Garrett spielt heute am Völki. Auch ich werde feiern.

Literatur- und Quellenverzeichnis
Fesser, G.: 1813. Die Völkerschlacht bei Leipzig. Bussert & Stadeler, Jena 2013.
Nabert, T. (Hg.): Zeugen des Schreckens. Erlebnisberichte aus der Völkerschlachtzeit in und um Leipzig. Pro Leipzig, Leipzig 2012.

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Autor
Janina Stumpp

Völkerschlacht 1813 / 1913 / 2013