Verrosteter Nagelknipser

Artefakte moderner Archäologie

Verrosteter Nagelknipser
11 x 37 x 38 mm
Metall
Fundort: Berlin
gefunden im März 1987

Der stark verrostete Nagelknipser aus Metall wurde während Renovierungsarbeiten hinter einem alten Kleiderschrank in einer verborgenen Kammer einer ehemaligen jüdischen Arztpraxis in Berlin Mitte gefunden.

Ein verrosteter Nagelknipser als stummer Zeitzeuge

Im Jahr 1987 zogen meine Eltern nach Berlin um. Ihre erste Wohnung fanden sie in der Johannisstraße 8 in Berlin Mitte, mitten im bekannten Scheunenviertel. Es war ein altes, sehr verwinkeltes Haus, das stark vermodert roch und dessen Boden bei jedem Schritt knarzte. Als sich die Wohnungstür öffnete, sahen sie in einen länglichen, hoch gebauten Raum, von dem drei Türen abgingen. Er war in einem sehr schlechten Zustand. Die Tapete war zerlöchert und hing teilweise in Fetzen von der Wand ab, die Dielen waren abgetreten und entlang der Decke hing ein Kabel, dessen Stromfluss nicht geklärt war und das an einigen Stellen seine ursprüngliche Isolierung nur noch erahnen ließ. Hinter den drei Türen des Flurs verbargen sich separate Wohnungen. Die Wohnung meiner Eltern war die hinterste und über eine Flügeltür dicht neben dem unheilvollen Kabel zu erreichen. Auch in der Wohnung selbst erwartete sie kein besseres Bild. Es roch gewöhnungsbedürftig und beim Betreten einer bestimmten Diele in der Stube öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer. Doch was soll‘s?! Es war ihre erste Wohnung in Berlin und über die Mängel wurde hinweggesehen, schließlich kann man einiges aus der alten Wohnung machen. Außerdem gab es einen kleinen Spielplatz, der über eine separate Feuertreppe gut zu erreichen war und wo meine Geschwister gut sichtbar spielen konnten.

Und so begannen wenig später die möglichen Renovierungsarbeiten. Dabei kamen so einige interessante und auf die Geschichte des Hauses hinweisende Dinge zum Vorschein. So befanden sich unter der Tapete Zeitungsberichte aus dem Jahr 1941 und unter einigen Dielen entdeckten sie Hohlräume, die als Verstecke für Nahrung oder persönliche Gegenstände genutzt worden sein könnten. Das Schlafzimmer meiner Eltern war etwas niedriger und verwinkelter als der Rest der Wohnung. Hinter einem Schrank, der in eine Nische angepasst zu sein schien, entdeckten sie eine halbhohe, quadratische Tür. Voller Neugier, was sich dahinter verbergen könnte, öffnete mein Vater die Tür und fand eine schmale, kaum einen Meter breite Treppe vor, die in die Dunkelheit führte. Mit einer Taschenlampe ausgerüstet kletterte er die Treppe hinauf und gelangte in einen kleinen, sehr flachen Raum, in dem er nur gebückt vorankam. Der Raum hatte keine Fenster, keinen Strom und im Lichtschein seiner Taschenlampe konnte er sehen, dass der Boden von Staub, Müll und Spinnenweben bedeckt war. Unter diesem Müll, in einen dreckigen Fetzen eingewickelt, fand er eine kleine Holzschatulle. Sie schien alt zu sein, ihre Ecken waren abgenagt und der Deckel wies tiefe Risse auf. Er nahm sie mit in die Wohnung, wo meine Eltern sie näher betrachteten. Sie sah unspektakulär aus, eine alte, braune, hölzerne Schatulle. Doch was befand sich in ihrem Inneren?

Den kleinen Riegel nach oben geklappt und die Schatulle öffnet sich. Voller Spannung schauten meine Eltern in das kleine, sich zeigende Kästchen und fanden … einen alten, verrosteten, handelsüblichen Nagelknipser.

Einen Nagelknipser, wie ihn Chapel Carter im Jahr 1896 hätte erfinden können (vgl. Weblink). Nichts Außergewöhnliches: zangenförmig aufgebaut, an der Spitze zwei konkav gebogene Klingen, die einander parallel gegenüberstehen – eben ein ganz gewöhnlicher Nagelknipser, oder auch Nagelklipserl oder Nagelzwicker, wie man in Süddeutschland zu sagen pflegt. Ein gewöhnliches Gerät zur Fuß- und Fingernagelpflege. Er muss jahrelang dort oben gelegen haben, so verrostet, wie er war. Doch was in aller Welt veranlasst jemanden, einen alten Nagelknipser in einer Holzschatulle zu verstecken?

Da der Fund nicht so spektakulär war, wie anfangs vermutet, setzten meine Eltern die Renovierungsarbeiten fort. Meine Mutter bewahrte die Schatulle mit samt ihrem Inhalt in einer Kiste, in meiner Familie später als Messikiste bekannt, auf.

Während der nächsten Wochen stellten meine Eltern die Wohnung fertig, ohne neue Funde oder Entdeckungen. Sie lebten sich ein und machten Bekanntschaft mit den Nachbarn und lernten so eine ältere Dame kennen, die mit ihrem Mann zusammen schon längere Zeit in dem Haus wohnte. Meine Eltern und das alte Ehepaar verband bald ein großes Vertrauensverhältnis und sie passten oft auf uns Kinder auf.

das Mietshaus in der Johannisstraße 8 in Berlin-Mitte

Nach ein paar Jahren zogen wir aus dem Mietshaus in der Johannisstraße 8 aus und bezogen ein Haus am östlichen Rand von Berlin. Auch Sieglinde, die ältere Dame, zog nach dem Tod ihres Mannes in unsere Nähe und besuchte uns regelmäßig. So auch Weihnachten 2009. Nachdem ein oder zwei Flaschen Rotwein geleert und der Kartoffelsalat samt der Bouletten aufgegessen waren, gerieten meine Eltern und Sieglinde ins Durchleben alter Erinnerungen und meiner Mutter fiel plötzlich wieder die Schatulle mit dem Nagelknipser ein. Sie holte ihre Messibox heraus und erzählte Sieglinde die Geschichte, wie und wo sie sie gefunden haben. Leider hatte die alte hölzerne Schatulle die Zeit in der Messibox nicht überlebt.

Sieglinde erzählte, sie habe gehört, dass die Wohnung ursprünglich eine jüdische Arztpraxis war, die im Zuge des Nationalsozialismus geräumt wurde. Der Arzt und seine Frau seien den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen. Über den Verbleib seiner Kinder sei jedoch nie etwas bekannt geworden.

Was ist damals passiert? Wurden er und seine Frau wie so viele andere Jude deportiert? Was ist mit seinen Kindern passiert?

Ich begann, mich mit der Geschichte unseres ehemaligen Zuhauses im Scheunenviertel von Berlin zu beschäftigen: Das sogenannte Scheunenviertel stellt wohl eines der geschichtsträchtigsten Viertel Berlins dar und umfasst historisch gesehen das Areal nordwestlich des Alexanderplatzes, zwischen Torstraße, Münzstraße und Rosenthaler Straße. Heutzutage wird häufig der gesamte Bereich zwischen Friedrichstraße und Karl-Liebknecht-Straße bezeichnet, welcher auch die Johannisstraße einschließt. (vgl. Mathias Stengel, Berlin-Mitte.Tradition, Kultur und Szene im Herzen Berlins)

Ab 1737 entwickelte sich das Scheunenviertel zu einem jüdisch geprägten Stadtviertel, beginnend mit der gesetzlichen Regelung Friedrich Wilhelms, die vorsah, dass Berliner Juden ohne eigenes Haus in das Scheunenviertel ziehen und die Stadt lediglich durch die zwei nördlichen Stadttore betreten dürfen. Von nun an begann die Entstehung eines stark von jüdischen Kultureinflüssen geprägten Viertels. Es entstanden Synagogen und die jüdischen Friedhöfe Berlin-Mitte und Schönhauser Allee.

In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es im Rahmen der Hyperinflation zu mehreren antisemitischen Übergriffen, nachdem die jüdischen Händler des Geldaufkaufs beschuldigt wurden.

Straßenszene im Berliner Scheunenviertel, Grenadierstraße, 1933Straßenszene im Berliner Scheunenviertel, Grenadierstraße, 1933

Das Scheunenviertel entwickelte sich schließlich zu einem sozialen Brennpunkt, dominiert von Kriminalität, Armut und Prostitution. Die westlich angrenzende Spandauer Vorstadt hingegen war bekannt für ihr gutbürgerliches, jüdisches Milieu, das mit der Neuen Synagoge ein wertvolles Zentrum besaß. Um diese reformierte jüdische Gemeinde ebenso zu verunglimpfen wie die im Scheunenviertel ansässigen Juden, weiteten die Nationalsozialisten den Begriff Scheunenviertel aus.

Berliner Schutzpolizei und nationalsozialistische Hilfspolizei im Scheunenviertel, Frühjahr 1933

Bis 1939 sank die Zahl der jüdischen Bevölkerung Berlins auf ca. 75.000. Um 1942 wurden die jüdischen Schulen und Krankenhäuser des Scheunenviertels von den Nationalsozialisten geräumt und häufig von der Gestapo als Judensammellager vor der Deportation genutzt. 1943 kam es zu einer großangelegten Verhaftungswelle der Nationalsozialisten, während derer etwa 10.000 in einer Mischehe lebenden Juden und Mischlinge während ihrer Arbeit verhaftet und in der Rosenstraße festgehalten wurden (vgl. Anne Keller, Jüdisches Leben in Berlin – eine Spurensuche). Ihre Frauen demonstrierten tagelang für ihre Freilassung, die nach ca. einer Woche erfolgte. Hiervon erzählt auch der Film Rosenstraße von Margarete von Trotta aus dem Jahr 2003.

Nachdem tausende Juden aus Berlin deportiert wurden, wurde Berlin am 16.06.1943 schließlich judenrein erklärt. Nach dem Krieg wurde bekannt, dass lediglich 8.000 Juden in Verstecken oder verheiratet mit Nichtjuden überlebten. (vgl. David Shyovitz, The Virtual Jewish History Tour Berlin)

Die gewonnen Erkenntnisse über das Viertel, in dem meine Familie einige Zeit lebte, veranlasst mich nun zu der Frage: Wurde die jüdische Arztpraxis, die unser Zuhause werden sollte, auch 1941 geräumt? Hat sich in der kleinen, verborgenen Kammer jemand vor der Deportation versteckt? Die Kinder des Arztes vielleicht? Gehörte der Nagelknipser dem jüdischen Arzt? Bewahrte ihn jemand als Erinnerung auf? Ist er das letzte Überbleibsel einer einst enteigneten jüdischen Arztfamilie?

Fragen über Fragen, die einen verrosteten Nagelknipser wahrscheinlich zu einem stummen Informanten vergangener, historischer und dunkler Zeit machen.

Informative Links:

Anne Keller, Jüdisches Leben in Berlin – eine Spurensuche

David Shyovitz, The Virtual Jewish History Tour Berlin

Mathias Stengel, Berlin-Mitte. Tradition, Kultur und Szene im Herzen Berlins

Wikipedia : Scheunenviertel

Wikipedia: Nagelknipser

Bildverzeichnis:

Das Mietshaus, Johannisstraße 8, Berlin-Mitte

Straßenszene im Berliner Scheunenviertel, Grenadierstraße, 1933

Berliner Schutzpolizei und nationalsozialistische Hilfspolizei im Scheunenviertel, Frühjahr 1933

Download Objektbeschreibung

Autorin
Rudolph, Sarah

Foto Nagelknipser
Rudolph, Sarah

Artefakte moderner Archäologie