Osterkerze

Fundstücke 1000 Jahre Leipzig

Osterkerze
15 x 165 x 15 mm
Wachs
Fundort: Böhlitz-Ehrenberg
Funddatum: 27. Mai 2015

Ein kleines Mädchen steht verloren in der Menschenmenge.
 Sie hält eine schmale, krumme Osterkerze in der Hand.
 Die Kerze ist erloschen.
 Die Menschenmenge umspielt ihre kleine Gestalt und scheint sie zu verbergen. 
An einer anderen Stelle steht eine Mutter, sie sucht vergeblich ihre Tochter.

Zum Lichterfest kommen jährlich um die hunderttausend Menschen zusammen. Alle gedenken den Montagdemonstrationen seit August 1989, welche bis zu dem 9. November im selben Jahr andauerten und heute unter dem Begriff der friedlichen Revolution Bekanntheit genießen. Auch an diesem Abend, zum 25. Jahrestag sind viele Menschen gekommen, weit mehr als Hunderttausend. 
Es ist schon dunkel geworden und der Innenstadtring kommt einem Lichtermeer gleich. Dieser Anblick ist wirklich faszinierend, denkt sich ein kleines Mädchen. Sie ist mit ihrer Mutter in die Stadt gefahren, um ein Teil der Menschenmenge zu sein. Am Anfang war sie ängstlich, umklammerte mit einer Hand fest ihre schmale Kerze und mit der anderen die ihrer Mutter. Sie hatten ihre eigenen Kerzen mitgebracht, übrig geblieben vom letzten Osterfest. 
Das kleine Mädchen beobachtete fasziniert das Treiben. So viele Menschen: Kinder, Frauen, Männer, Familien, Freunde – es schien dem kleinen Mädchen fast so, als hätte sich die gesamte Stadt eingefunden um gemeinsam an ein Stück Leipziger Geschichte zu denken. Sie hatte einen Blick auf ihre schmale Osterkerze geworfen, diese war durch ihr Umklammern ganz krumm geworden. Aber das störte das kleine Mädchen nicht. Etwas fehlte der Osterkerze allerdings noch. Das kleine Mädchen hatte sie ihrer Mutter in die Hand gedrückt und weiter die Menschenmenge beobachtet. Ihre Mutter hatte ihr die Osterkerze angezündet zurück gegeben. Jetzt hielt das kleine Mädchen endlich ein eigenes Licht in der Hand. Mit dem Licht war auch die Angst gewichen. Sie lies die Hand ihrer Mutter los und lief weiter ohne den Blick von ihrem Licht zu lassen. Unbemerkt wurde sie immer langsamer, bis sie schließlich stehen blieb und nur noch ihrer schmalen, krummen Osterkerze beim Brennen zusah. 
Doch plötzlich kam eine kleine Windböe und nahm der Kerze die Flamme.
 Jetzt steht das kleine Mädchen Monick verloren in der Menschenmenge. Sie hält ihre schmale krumme Osterkerze in der Hand. Die Kerze ist erloschen. Die Menschenmenge umspielt ihre kleine Gestalt und scheint sie zu verbergen. An einer anderen Stelle steht ihre Mutter, sie schaut sich suchend um, kann aber Monick vor lauter großen Gestalten nicht in der Menge ausmachen. Monick dreht sich und betrachtet die Lichtermenge und hält Ausschau, doch kann ihre Mutter nicht finden. Deshalb läuft sie auf ein angrenzendes Stück Wiese und setzt sich neben die Herbstblätter. 
Dort bleibt Monick nicht lange unbemerkt. Eine Frau in der Menge beginnt die Information eines allein auf der Wiese sitzenden Mädchens an ihre Umgebung weiter zu geben. Sofort verbreitet sich das Geschehene weiter. Jeder gibt die Nachricht an die Nächsten, bis auch die Mutter des kleinen Mädchens davon erfährt. Sofort läuft sie los um sie zu finden. Es ist nicht leicht durch den Menschenstrom hindurch zu kommen. Als sie endlich bei dem Stück Wiese angekommen ist, von dem man sagte, ihre Tochter säße da, war weit und breit keine Spur von dem kleinen Mädchen, nur die krumme Osterkerze lag neben den Herbstblättern. Nun fragen Sie sich bestimmt, was das für eine fantastische Geschichte ist. Es ist die Geschichte meiner kleinen Nachbarin Monick. Ich kann Sie beruhigen, Monick war zu den angeschlossenen Fahrrädern gelaufen und konnte nach viel Herzklopfen endlich wieder die Hand ihrer Mutter halten – und diese Hand lies sie für den Rest des Abends nicht mehr los.
 Als ich Monick vor einer Weile auf dem Müllplatz getroffen habe, war sie gerade dabei, alte Sachen aus ihrem Zimmer wegzuwerfen. Als Kerzensammlerin ist mir die Osterkerze sofort aufgefallen und auf Nachfrage erzählte Monick mir dann die Geschichte. 
Sie hatte sich schon seit dem ersten Lichterfest 2009 gewünscht, mitlaufen zu dürfen. Damals war sie noch ein wenig zu jung gewesen und selbst im letzten Jahr sorgte ihre Teilnahme für große Aufregung.

Johanna Bauer

Fundstücke 1000 Jahre Leipzig