Benachbarte Primzahlen

Benachbarte Primzahlen

NACHBARSCHAFT

Benachbarte Primzahlen
90 × 85 × 1 mm
Karton, bedruckt
Fundort:  Leipzig, Neustadt, Ludwigstraße 29 und 31
Funddatum: 20.02.2014

Als LehrerIn steht man täglich vor der großen Aufgabe, den SchülerInnen den Unterrichtsstoff auf eine verständliche, anschauliche und lebensnahe Weise zu vermitteln. Ziel des Mathematikunterrichtes ist es, bei den SchülerInnen für mathematische Sachverhalte tragfähige Vorstellungen aufzubauen.Im letzten Wintersemester absolvierte ich mein fachspezifisches Praktikum SPS IV an einer Oberschule in Neustadt. Ich unterrichtete im Fach Mathematik die Klassenstufe 5 und 7.

Die Klasse 5b war eine sehr lebhafte und heterogene Klasse mit 29 SchülerInnen. Im Bereich der Algebra wies ein Großteil der Klasse ein niedriges Leistungsniveau auf. Gravierende Schwierigkeiten bestanden darin, dem Unterrichtsgeschehen konzentriert zu folgen, fehlende Motivation, vereinzelte Integrationsschwierigkeiten und fehlende Grundvorstellungen des Zahlenraumes und der Grundrechenarten. Dyskalkulie lag in fünf Fällen diagnostiziert vor und wurde in weiteren drei Fällen vermutet. Ich übernahm die Unterrichtseinheit zum Lernbereich 1 Natürliche Zahlen und sollte den Schülerinnen und Schülern Kenntnisse über die Teilbarkeit von natürlichen Zahlen und damit verbunden, die Lerninhalte Vielfache und Teiler, Mengenbegriff und Primzahlen vermitteln. Der Lehrplan für die Oberschule Sachsen gibt als Anmerkung zur Umsetzung den Hinweis auf das Vorwissen aus GS Kl. 3 LB2 und das Sieb des Eratosthenes.
Primzahlen sind natürliche Zahlen mit einer besonderen Eigenschaft. Diese Zahlen sind größer als Eins und nur durch Eins und sich selbst ganzzahlig teilbar. Bereits die antiken Griechen interessierten sich für die Primzahlen und entdeckten einige ihrer Eigenschaften. Obwohl sie über die Jahrhunderte stets einen großen Reiz auf die Menschen ausübten, sind bis heute viele, die Primzahlen betreffende, Fragen ungeklärt. Innerhalb sechs Unterrichtseinheiten erarbeitete ich die Teilbarkeit im Bereich der natürlichen Zahlen, die Primfaktorzerlegung, Eigenschaften von Primzahlen und besondere Beziehungen zwischen Primzahlen wie Glückliche-, Gute- und Benachbarte Primzahlen (in der Literatur auch unter dem Begriff Primzahlzwillinge bekannt).
Während der Unterrichtseinheiten machte ich häufig die Erfahrung, dass die SchülerInnen große Schwierigkeiten hatten, neue formale Sachverhalte zu verstehen, da sie selbst keine Beziehung zum Unterrichtsgegenstand aufbauen konnten. Auch meine zahlreichen Beispiele aus Natur und Umwelt, Gegenbeispiele und Veranschaulichungen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Als ich über der Unterrichtsplanung für die kommenden Einheiten saß, fiel mir der Roman von Yoko Ogawa „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ ein. Darin beschreibt die Haushälterin eines Mathematikprofessors ihre Beziehung zu Mathematik und Primzahlen wie folgt: „Ich fragte mich, warum ganz normale Ausdrücke, sobald sie in der Mathematik benutzt wurden, auf einmal diesen romantischen Klang hatten. Die Begriffe „Befreundete Zahlen“ oder „Zwillings-Primzahlen“ waren zwar klar definiert, aber zugleich klangen sie poetisch, wie aus einer Gedichtzeile entsprungen. In meiner Vorstellung waren sie immer irgendwie lebendig: Sie umarmten sich oder trugen dieselben Kleider oder standen Hand in Hand nebeneinander.“ An der Textstelle wurde mir bewusst, dass die Haushälterin eine persönliche Bindung zu den Phänomenen in der Mathematik entwickelt hat, die ihr half, abstrakte Sachverhalte besser zu verstehen.
Ich erteilte in der nächsten Unterrichtseinheit den SchülerInnen die Hausaufgabe, in ihrer Umgebung nach Primzahlen zu forschen und diese Arbeit zu dokumentieren. Mir war es wichtig, dass die Lernenden erkannten, dass Mathematik sehr viel mit ihrem täglichen Alltag und ihrer Umwelt zu tun hat. Die SchülerInnen sollten lernen, sich selbst „ein Bild zu machen“ und somit eine abstrakte Theorie individuell veranschaulichen. Oft wird das Arbeiten auf der enaktiven Ebene (nach Bruner) übersprungen. Als Gründe werden Stoffdichte, Zeitdruck und der hohe Materialaufwand genannt. Enaktives Arbeiten ist aber für die Vorstellungsentwicklung und den Verständnisgewinn bei SchülerInnen enorm wichtig.

Am darauf folgenden Tag sollten die SchülerInnen von ihrer Erkundung berichten und ihre Funde präsentieren. Ich war sehr erstaunt, über die Motivation in der Klasse und sah voller Freude in aufgeweckte, euphorische Kindergesichter, die es kaum abwarten konnten, ihr Erlebtes zu erzählen. Auf fast jeder Bank lagen Gegenstände mit aufgedruckten Zahlen, Skizzen, Zeichnungen und Bildern und Zahlenmaterial aus Neustadt. Marius, der sich sonst kaum am Unterrichtsgeschehen beteiligt hatte, berichtete voller stolz „Ich fand die Aufgabe am Anfang ganz schön krass. Alter, was bin ich gestern hin und her gelaufen. Zuerst fand ich gar nichts, aber nach einer Weile waren da überall Zahlen. An der Straßenbahn die Zahl 3 – eine Primzahl, an dem Schild vom Gemüsehändler stand 5 kg Kartoffeln. Auch die 5 ist eine Primzahl und meine Hausnummer die Zahl 43 auch, das habe ich mit Hilfe der Teilbarkeitsregeln, die wir behandelt haben, überprüft. Eine Schülerin, die ebenfalls in der Algebra große Schwierigkeiten hatte, meldete sich und ergänzt: „So bin ich auch vorgegangen. Also erst die Zahlen gesucht und dann probiert. Ich bin die Straßen abgelaufen und habe die Hausnummern genommen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich immer nur auf der einen Straßenseite Primzahlen fand.“

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Diese Erfahrung hatte ein Großteil der SchülerInnen gemacht. Antonio, ein sonst sehr schüchterner Junge, erklärt den anderen: „Das liegt daran, dass auf der einen Straßenseite alle Hausnummern gerade Zahlen sind und diese sind immer durch zwei teilbar.“ Ich war erstaunt über die Ergebnisse und die vielen Zusammenhänge, die die SchülerInnen mir hoch motiviert und selbstbewusst schilderten. „Wir haben sogar eine Beziehung zwischen Primzahlen gefunden, zwei benachbarte Primzahlen.“ rief Alysha. „Wir sind die Ludwigstraße abgelaufen, auch auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern, da wohnen wir nämlich. Meine beste Freundin Cindy und ich. Sie wohnt in der Ludwigstraße 29, ich in der Ludwigstraße 31. Alter, ist das nicht gut, das sind nicht nur beides Primzahlen, sondern auch benachbarte Primzahlen! Das ist so cool; benachbarte Primzahlen sind zwei aufeinanderfolgende Primzahlen, deren Abstand 2 beträgt. Die kleinsten benachbarten Primzahlen sind (3;5), (5;7) und (11;13) haben Sie ja gesagt. Und 29 und 31 ergibt auch ein benachbartes Primzahlpaar.“ Dabei hielt sie stolz eine gebasteltes Türschild aus Karton hoch. Auf der einen Seite las man die Zahl 29 auf der anderen Seite die Zahl 31. Diese Stunde war für die SchülerInnen, aber auch für mich sehr nachhaltig und motivierend.

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Literatur- und Quellenverzeichnis
Yoko Ogawa: Das Geheimnis der Eulerschen Formel. Berlin 2013 S.92.
http://de.wikipedia.org/wiki/Primzahlzwillinge
http://de.wikipedia.org/wiki/Sieb des Erastothenes
http://www.schule.sachsen.de/lpdb/web/downloads/lp_ms_mathematik_2009.pdf?v2
http://www.aufbau-verlag.de/index.php/das-geheimnis-der-eulerschen-formel.html
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Autor
Anna Elisabeth Börner

 

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