Papagei
39 × 19 × 17 mm
Fundort: Rosa-Luxemburg-Str.54, Leipzig
gefunden am 22. April 2012
Ein Papagei als Glücksbringer
Dieser bunte Paradiesvogel wurde zufällig verborgen zwischen Unkraut und Abfall an einer Hauswand entdeckt.
Er ist das Zeugnis der Geschichte eines kleinen Mädchens, das sich nichts Sehnlicheres wünschte, als nach Monaten der Trennung ihren großen Bruder wiederzusehen.
Es ist früher Abend und ich spaziere wie so oft am Sonntag durch die Straßen Leipzigs. Heute hat es mich in die Leipziger Neustadt verschlagen. Ich möchte mir die Kreuzkirche ansehen.
Während ich den Gehweg entlang laufe, schweift mein Blick ziellos über den Boden, mal hier hin und mal dort hin bis er unverhofft an einem kleine, bunten Ding hängen bleibt, das sich halbverborgen von Unkraut an einer Hauswand versteckt. Ich halte inne und betrachte meinen Fund: Ein kleiner kunterbunter Papagei aus Plastik.
Nachdem ich ihn von Schmutz befreit hatte, erkenne ich, dass er eine grüne Fliegerbrille trägt und keinen Schwanz mehr hat.
Ich frage mich, was der kleine Kerl wohl durchgemacht hat, bis er in meine Hände gelangt ist?
Meine Gedanken schweifen ab. So bunt wie dieser kleine Papagei, denke ich, so bunt und vielfältig sind auch die verschiedenen Kulturen, die in der Leipziger Neustadt zusammentreffen.
Die Leipziger Migranten stammen aus den unterschiedlichsten Ländern, der Großteil der Migranten jedoch kommt aus islamisch-arabisch geprägten Ländern. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund beträgt in der Neustadt 28,5%, womit dieses Stadtviertel den größten Anteil an ausländischen Mitbürgern aufweist. Im bundesweiten Vergleich jedoch steht Leipzig mit einem Ausländeranteil von insgesamt gerade mal 6,5% hinter westdeutschen Großstädten deutlich zurück.
So groß die kulturelle Vielfalt ist, so unterschiedlich mögen auch die Motive sein, die die Migranten dazu bewogen haben, ihre Heimat zu verlassen und sich in Leipzig niederzulassen. Sie reichen von wirtschaftlicher Not, Naturkatastrophen, politischer Verfolgung und Unterdrückung bis zu hin Folter und Kriegserlebnissen.
Während ich diesen Gedanken nachhänge, richtet sich mein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf der sich die Takva-Moschee befindet. Plötzlich tritt ein kleiner Junge aus der Tür der Moschee, kommt auf mich zu und fragt mich, ob er mir irgendwie behilflich sein könne, wahrscheinlich weil ich so orientierungslos dreinblicke. „Ja“ antworte ich ihm: „ich suche den Weg zur Kreuzkirche“. Der Junge erklärt mir höflich den Weg, dann hält er inne und fragt mich erstaunt, was ich denn da in den Händen hielte. Verwundert stelle ich fest, dass ich den kleinen Papagei noch immer in der rechten Hand halte. Der Junge wird nachdenklich, als er den kleinen Papagei betrachtet und erzählt mir, dass ein Mädchen aus seiner Schule, mit dem Namen Mayada, stets einen ähnlichen Papagei als Glücksbringer mit sich herumgetragen habe. Doch vor einigen Tagen sei sie mit ihrer Familie verschwunden, wohin wisse er nicht.
Was ich dann erfuhr, hätte ich beim besten Willen nicht erwartet: Tatsächlich begleitete dieser Papagei das Mädchen bereits seit einigen Monaten auf ihrer beschwerlichen Reise nach Deutschland. Er war das Abschiedsgeschenk ihres großen Bruders, bevor sich das Mädchen gemeinsam mit der Mutter bei Nacht und Nebel auf den Weg in eine neue Zukunft in Deutschland begab. Wenn sie sein Geschenk bei sich trage, behauptete er, würden sie sich eines Tages wiedersehen. Er und der Vater wollten nach Deutschland nachkommen, sobald sie eine Möglichkeit dafür finden würden. Mayada und ihre Mutter hatten gerade noch rechtzeitig Syrien verlassen können, denn nur wenige Tage später hatten bereits militärische Truppen der syrischen Regierung ihr Dorf erreicht.
Der Weg nach Deutschland war hart und strapaziös. Drei Wochen lang reisten Mayada und ihre Mutter zu Fuß oder auf Lastwagen durch das Land, manchmal mussten sie mehrere Tage am Stück hungern. Die Einwanderung nach Europa musste unbemerkt und auf illegalem Weg erfolgen, denn noch hatten sie keine Aufenthaltsgenehmigung. Schließlich hatten sie wochenlang in einem Auffanglager an der türkischen Grenze ausharren müssen, bis ihnen Verwandte, die bereits seit einigen Jahren in Deutschland leben, zur Hilfe geeilt waren und sie finanziell bei der Einreise unterstützt hatten.
Nur so viel hatte der Junge von Mayada in Erfahrung bringen können.
Viele Flüchtlinge warten mitunter jahrelang auf eine Aufenthaltsgenehmigung und befinden sich nur in einem Duldungsstaus in Deutschland. Das bedeutet, dass die Abschiebung jederzeit erfolgen kann.
Ob Mayada und ihre Mutter ein solches Schicksal ereilt hat, ist unbekannt. Was jedoch von ihr bleibt und an sie erinnert, ist der kleine Papagei, der noch immer im Inneren meiner Hand ruht. Ich frage mich, war es bloße Unachtsamkeit, dass Mayada den Papagei verloren hatte oder hatte sie ihn mit Absicht hier bei der Moschee zurückgelassen, weil er ihr wohlmöglich kein Glück beschert hatte?
Links
Migranten in der Stadt Leipzig 2010
Autor
Theresa-Marie Bünsow