Klingelschild

Neustädter Fundstücke

Klingelschild

150 × 170 × 30 mm
Kunststoff, Metall
Fundort: Ludwigstraße 77
gefunden am: 24.04.2012

Im Grunde ist nichts Besonderes an diesem alten, verdreckten Klingelschild aus einfachem Plastik, das es vermutlich tausende Male gibt. Es unterscheidet sich nur dadurch, dass es zum Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit etwas größerem wird: der Geschichte des Stadtteils, in dem es gefunden wurde.

Dieses Klingelschild lag im Haustürrahmen der Ludwigstraße 77. Es weist das Haus als fünfstöckiges Wohnhaus mit zehn Mietparteien aus. Die beiden Namensschilder Märten und S. Rähder sind die einzig verbliebenen. Das Gebäude wird zurzeit saniert, so dass es kaum mehr Spuren der ehemaligen Bewohner gibt.

Jede dieser Wohnungen verfügt über eine Küche und 3 kleine Zimmer. Die Toiletten befinden sich auf halber Treppe, Badezimmer gibt es keine. Ich kenne das noch von meiner Oma. Bei ihr gab es nur eine Waschmöglichkeit, nämlich das Waschbecken. Zum Baden stellte sie eine Plastikwanne auf und erhitzte das Wasser auf dem Herd. Das änderte sich erst, als sie sich eine Duschkabine in die Küche stellte.

Die Wohnungen in der Ludwigstraße wurden, wie viele dort, für die Arbeiter einer der um­liegenden Fabriken gebaut: das Sägewerk, die Seifenfabrik, die Dampfmahlmühle oder auch die Leipzig Eisenbahn. Man benötigte schnell billigen Wohnraum, weshalb die Wohnungen vermutlich auch so klein sind. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden, waren die Wohnungen durchaus modern.

Bis Anfang der 90er Jahre war die Leipziger Neustadt ein so belebter und dicht besiedelter Stadtteil, dass es schwierig war, dort eine Wohnung zu bekommen. Es gab alle lebensnotwendigen Läden, die Wilhelm-Wander-Schule, die Kirche. Von einem ehemaligen Bewohner der Neustädter Straße, den ich zufällig vor der Heilig - Kreuz - Kirche traf, erfuhr ich, dass er schon 1957 ein halbes Jahr auf eine Wohnung im Kiez warten musste und solange mit seiner Frau in einem Zimmer bei deren Eltern lebte. Er arbeitete damals bei der Post im Postbahnhof und war sehr froh, dass er endlich eine Wohnung in der Nähe ergattern konnte.
Meine Eltern erzählten, dass sie ihre erste gemeinsame Wohnung 1977 im Tausch bekamen. Eine alte Dame bezog die moderne Ein-Zimmer- Neubauwohnung meines Vaters in Schönefeld und meine Eltern deren gutbürgerliche Drei-Raum-Wohnung in der Ernst-Thälmann-Straße 11 (die heutige Eisenbahnstraße).

Auch meine Mutter bestätigt, dass die Neustadt damals sehr belebt war. Es gab viele Geschäfte in Laufnähe: gegenüber einen Eisenwarenhandel, da­neben einen Konsum, um die Ecke einen Fleischer, einen Gemüseladen, ein Wäschegeschäft und eine Eisdiele. Sie hätte alles Notwendige dort besorgen können, ohne ins Zentrum zu fahren: „Theoretisch, wenn es alles zu kaufen gegeben hätte. Aber so musste ich ab und zu ins Feinkostgeschäft am Bahnhof.“

Nach der Wende zogen viele aus den maroden Häusern der Seitenstraßen des Viertels aus und nur die blieben, die zu alt oder zu arm waren. Im Laufe der letzten Jahre zogen Migranten und Studenten in die Gegend, da sie preis­wert und gut angebunden gelegen ist. Inzwischen wurde und wird viel saniert, so wie das Haus in der Ludwig-straße.

Quellen
Historisches aus dem Leipziger Osten
Wo ich lebe

Links
Objektbeschreibung

Autor
A. Prahtel

Neustädter Fundstücke