Frontleuchte

Neustädter Fundstücke

Frontleuchte

70 × 70 × 100 mm
Stahlblech, Kunststoff
Fundort: Mariannenstraße 9
gefunden am 02.Mai 2012

Leipzig-Neustadt – Eisenbahnstraße, der Eingang des Ghettos! Lärm, Dreck, Migration, nichts als negative Schlagzeilen? Das Aufeinandertreffen mit Bewohnern des Viertels, erzählt von ihrem Alltag, den Ansichten und Wünschen des Zusammenlebens, von Vergangenem und Gegenwärtigem.

Die Eisenbahnstraße im Rücken, auf der Suche nach anderen, positiven Facetten der Neustadt – im Streifzug durch die Nebenstraßen. Doch es schien wie leergefegt.

Wo ist das pulsierende Leben geblieben? Nur gelegentlich dringen Gesprächsfetzen durch die Fenster nach draußen. Entgegenkommende Passanten biegen kurz vor einem in die Hauseingänge ein. Eine kleine Gruppe Kinder rennt vorbei und verschwindet ebenso schnell, wie sie aufgetaucht ist, hinter der nächsten Straßenkreuzung.
Wieder allein.
Ich fühle mich wie ein Fremdkörper. Am besten sollte mir alles verborgen bleiben.
Es muss ein Weg gefunden werden, um an die verborgenen Geschichten hinter den Fassaden zu gelangen. Zunächst soll ein scheinbar leerstehendes Haus begutachtet werden.
Es ist nicht schwer hineinzugelangen, doch zu meiner Verwunderung sieht das Innenleben zweideutig aus. Gerad erst verlassen oder vielleicht doch noch bewohnt? Es ist nichts zu hören, ich taste mich weiter vor. Die Wohnungstüren im Erdgeschoss stehen offen. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass alle Möbel ausgeräumt wurden. Die hintere Ecke des Bades dient als Sperrmüllablage. Die anderen Räume wurden ebenfalls umfunktioniert und mit Fahrrädern voll gestellt. Diese sehen durchaus noch fahrtüchtig aus, die meisten sind zudem durch ein Schloss gesichert. Hier muss noch jemand wohnen!
Im nächsten Augenblick – ein Knarren im Treppenhaus. Schritte aus einer anderen Etage sind zu vernehmen. Um nicht als Störenfried wahrgenommen zu werden, stelle ich mich wieder in den Hausflur und suche die Konfrontation.
Ein junger, gutgelaunter Mann steht mir gegenüber und stellt sich als Robert vor. Nach kurzem Bericht, was es mit meiner Anwesenheit auf sich hat, wird ein neues Treffen vereinbart und schon ist er wieder weg.
Geschafft! Der erste Kontakt ist hergestellt.

Zweiter Besuch, etwa eine Woche später.
Eine aufgeschlossene, äußerst freundliche Atmosphäre durchströmte dieses Mal die Gänge der Mariannenstraße 9. Robert erzählte zunächst viele Geschichten über die Neustadt, um einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Die Betonung lag dabei immer auf der Behaglichkeit, und in welch engem Geflecht er mit ihr verbunden ist.
Als gebürtiger Leipziger kennt er die Straßen und Häuser der verschiedenen Viertel der Stadt nahezu in- und auswendig. Für das studentische Leben stand für ihn und auch seinen Freund und jetzigen Mitbewohner Carsten von Anfang an fest, dass sie ihr Bleibe in einem Haus aus der Gründerzeit einrichten wollen. Auf der Suche nach einem passenden Objekt, klingelten die beiden unzählige Male an den Türen der alten zwar unsanierten, aber  durch ihren Charm so bestechenden Häuser und fragten die dortigen Mieter, ob sie im Haus mit unterkommen könnten. Nach etlichen vergeblichen Versuchen, fand sich doch etwas. Nicht hundertprozentig ihren Vorstellungen entsprechend, aber es passte. Als der Tag gekommen war, den Mietvertrag zu unterzeichnen, fuhr Robert kurz vorher mit seinem Rad die Mariannenstraße entlang. Ihm fiel sofort die Hausnummer 9 ins Auge. Kurz darauf gehörte die Wohnung im dritten Stock ihnen.
Es war Winter und trotz -20° Celsius gab es viel zu tun. An allen Ecken und Enden musste tatkräftig angepackt werden. Aus dem „belagerten“ Haus wurden bis heute sieben Container voll Schutt und Müll abtransportiert. Die ehemaligen zwei Partein sind mittlerweile auf acht angewachsen – Alle samt Studenten. Sie haben es sich in den urgemütlichen Kachelofen-Zimmern mit Dielenboden und Stuckverkleidung häuslich gemacht.
Was an Mietkosten unglaublich gering gehalten wird, ist im Gegenzug von den Bewohnern zu kompensieren, doch ihr englischer Vermieter lässt ihnen dabei alle Freiheiten. Dadurch ist die gesamte Hausgemeinschaft eine einzige große WG. Jeder kennt jeden und jeder ist für jeden da – und genau das macht das Temperament der Neustadt aus.
Carsten ist in diesem Fall Anlaufstelle in punkto zweirädriger Fortbewegung. Im Laufe der zwei Jahre, in denen die Wohnung vom ihm bewohnt wird, hat er einen seiner beiden bewohnten Räume zu einer Fahrradwerkstatt umorganisiert. Sein Wohnzimmer! Ein Zimmer, das trotz herumliegender Schraubenschlüssel, Schmierflecken und unbrauchbaren Radkleinteilen, mit Liebe zum Detail umgestaltet wurde und nun eine unglaubliche Lebendigkeit ausströmt, sodass man in jedem Fall mit dem ersten Schritt des Betretens der Wohnung fasziniert ist.
Ich habe deutlich gemerkt, dass die beiden Jungs bestrebt waren, das doch negativ behaftete Bild der Neustadt, zumindest auf mich bezogen, umzustimmen. Was ihnen wahrlich gelungen ist. Am Ende „schenkte“ mir Carsten noch diese Fahrradlampe. Ein Teil, das er nicht mehr verarbeiten kann, an dem aber doch so viel Geschichte hängt , die herausgetragen werden soll, „um das Viertel einmal anders zu beleuchten.“

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Quellen
Fahrradbeleuchtung der Marke FER

Autor
Alexandra Süß

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