Bis in die heutige Zeit prägt der Name Homer die Dichtkunst. Aus seiner inneren Vorstellungswelt heraus schuf er in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts v. Chr. die in der Ilias beschriebenen Heldenkämpfe zwischen Griechen und Troianern. Auch die Odyssee mit ihren sagenhaften Abenteuern und Heimkehrgeschichten des Odysseus werden mit seinem Namen verbunden. Diese enorm bildhaften Gesänge sowie Homer selbst wurden bereits in der Antike hochgeschätzt. Dies nährte auch die Legende vom blinden Seher, der durch eine reichere Vorstellungskraft und ein gesteigertes Bewusstsein mit seinem inneren Blick viel mehr sah als manch Sehender. Blindheit stand in der Antike nicht allein für die Einschränkung sinnlicher Wahrnehmung, sondern galt gleichzeitig als Gabe. Der mit tief eingesunkenen Augen dargestellte Homer wird als würdevoller Greis gezeigt: Über die beginnende Stirnglatze verläuft eine Binde, die dem Dichter nach dem Tod als heroische Ehre zu Teil wurde. Die Ohren verschwinden in der Fülle des gelockten Haupt- und Barthaares. Die kräftigen, weit hoch gezogenen Augenbrauen sollen die Anstrengung des Denkens verdeutlichen.
Das Bildnis Homers, das Sie hier ertasten können, ist in der Zeit des Hellenismus, also mehr als 600 Jahre nach seiner Lebenszeit entstanden. Zeitgenössische Dokumente über ihn fehlen. Demnach bleiben sein Aussehen und seine Blindheit, ja sogar seine Existenz, bis heute umstritten.