Praline

Leipziger Fundstücke

Praline
Durchmesser: 3,4 cm
Material: Milchschokolade 30 % (Zucker, Kakaobutter, Magermilchpulver, Butterreinfett, Emulgator, Sojalecithin, Vanillin), Haselnüsse (30%), Zucker, pflanzliches Fett, Waffel, Süßmolkenpulver, fettarmer Kakao, Emulgator Sojalecithin, Vanillin, Alu, Papier
Fundort: Ludwigstraße/ Ecke Einertstraße, Leipzig
Funddatum: 14.04.2012

Pausierend sitze ich vor einem Hauseingang auf einer Stufe, trinke Wasser und esse Cashewkerne. Ein Mann kommt des Weges, nickt mir freundlich zu und erkundigt sich, was ich denn hier täte. Ich grüße zurück und erläutere ihm die schlichte Tatsache, dass ich hier sitze und Nüsse esse. Zufrieden mit der Auskunft verabschiedet sich der Neugierige und geht weiter seiner Wege. Wenige Sekunden später taucht er erneut vor mir auf und gibt mir als Nachspeise ein in der Sonne glänzendes Ferrero-Rocher in die Hand.

Schon im Laufe eines in Leipzig – Neustadt verbrachten Nachmittages kann man feststellen, dass auf den hiesigen Straßen vergleichsweise viel Blickkontakt stattfindet. Auch als „Besucher“ wird man bei jeder Gelegenheit gegrüßt oder in ein kurzes Gespräch verwickelt. Ob man bei Aldi gefragt wird wo denn das Kartoffelpüree stehe oder einem scherzhaft mitgeteilt wird, dass die wild spielenden Kleinkinder wahrscheinlich zu heiß gewaschen wurden. Anlass und Thema der Konversation sind eigentlich Nebensache, Hauptsache Kommunikation. Es macht den Eindruck, als fände das Leben hier mehr als in anderen Leipziger Stadtteilen auf der Straße statt, so wie man es aus südlicheren Ländern kennt. Ohne Scheuklappen und nach innen gerichteten Blicken ist der Wegesrand ein Ort der Begegnung und die Neustädter scheinen interessiert an dem, was seine Mitmenschen so treiben und beschäftigt. An An dieser Stelle möchte ich nicht auf das bereichernde Aufeinandertreffen vieler verschiedener Kulturen eingehen, obgleich diese Tatsache sicherlich einen Beitrag zu dem besonderen Charme dieses Stadtteils darstellt.
Lieber berichte ich davon , dass ich nun seit ca. 20 Jahren in Leipzig lebe und mich nicht daran erinnern kann, hier schon einmal ein so unverbindliches, aufrichtiges und schmackhaftes Geschenk von einem Fremden bekommen zu haben. (Wobei ich betonen möchte, dass sich ein Besuch des Leipziger Ostens nicht nur wegen der Aussicht auf „zwischenmenschliche Leckerbissen“ lohnt). Tatsächlich lohnt es sich ja immer die gewohnten Pfade zu verlassen und auch die eigene Heimat hin und wieder aus den Augen eines Ortsfremden zu betrachten und mit neugierig offenem Blick durch scheinbar wohlvertraute Gegenden zu flanieren, sich Zeit zum Verweilen zu nehmen.
So sind meine positiven Eindrücke von Leipzig – Neustadt möglicherweise weniger auf das Quartier selbst, als vielmehr auf meine damalige persönliche Einstellung zurückzuführen. Es lässt sich immerhin schwer behaupten, dass die Bewohner eines bestimmten Stadtgebiets prinzipiell deutlich offenherziger als andere ihren Alltag beschreiten. Was ich aber sagen kann ist, dass ich an diesem Nachmittag eher wie ein Urlauber und extravertierter als sonst durch die Straßen gegangen bin. Da diese Einstellung zu solch schönen Erlebnissen führt, dient mir nun eine Praline nicht nur als Andenken, sondern vor allem als eine Art Zeigefinger, der mahnend mich daran erinnert, ab und zu einen Gang zurückzuschalten, weniger durch die Tage zu rennen und den Blick öfter in der Gegenwart verweilen zu lassen.
Wie dem auch sei, seither kehre ich immer wieder gern und aufgeschlossen in die Neustadt zurück und möchte hiermit den anonymen Anwohner und Spender der köstlichen Nachspeise grüßen und ihm danken.

 

Autor: Judith Kurtzke