Ungarisches Pornomagazin

Neustädter Fundstücke

Ungarisches Pornomagazin

155 × 225 × 5 mm
Papier
Fundort: Schulze-Delitzsch Str. 30, Hinterhaus
gefunden am: 13.4.2012

Ein Pornomagazin in ungarischer Sprache. Gleichzeitig ein Symbol für die Vielfalt an verschiedenen Nationen und Kulturen, die dieses Viertel bewohnen und damit für die Homogenität. Gleichzeitig aber auch ein Zeichen von menschlichen Bedürfnissen, die unabhängig von Herkunft und Religion sind.

Drei junge Männer, fast noch Jungs, sitzen gelangweilt an der Haltestelle Hermann-Liebmann Str. Sie rauchen hastig Zigaretten, vielleicht auch andere Dinge und hören über Handylautsprecher Musik. Man sieht nicht, dass sie vielleicht nicht von hier kommen. Ist ja auch nicht wichtig. Hier tummeln sich ja sowieso viele Kulturen, viele Nationalitäten.
Nichts zu tun. Nichts zu reden. Der Tag zieht an Ihnen vorbei und die Zigaretten werden gegen Alkohol getauscht, oder einfach weitergeraucht.

Man sieht sie durch die Straßen laufen. Die Zunge ist gelöster, die Stimmung auch.

Wäre man ihnen gefolgt, hätte man sie die Hermann-Liebmann Str runter laufen sehen, vorbei an den runtergekommenen Häusern und vor Jahren verlassenen Geschäften, vorbei am Kindergarten und dem Brachland. Man hätte gesehen, wie sie in die Schulze-Delitzsch-Str einbogen, links, auf  der Seite wo die Grundschule steht. Man hätte gesehen, wie sie ich gegenseitig hochschaukelten und laut grölend in den Hinterhof der Nummer 30 einstiegen und mehrere Hinterhäuser entdeckten. Man hätte den beißenden Geruch von Katzenpisse in der Luft wahrgenommen, die alten Matratzen gesehen und die eingetretene Tür des Hinterhauses links mit Vorsicht genossen. Vermutlich hätte man hier umdrehen wollen. Sei es wegen einer empfindlichen Nase, oder doch aus Angst vor der Polizei. Aber aus reiner Neugier hätte man beobachtet, wie die Jungs grölend das Haus gestürmt haben, alte Möbel vorfanden,  betrunken und angestachelt von der Dynamik der Gruppe auf alles drauf gehauen haben. Die Küchenschränke – runter gerissen, die Fenster – eingeschlagen, die Lampen – von der Decke geholt. So hätte es ausgesehen, wäre man danach in das Haus gelangt. Der Lärm wäre unerträglich gewesen, für denjenigen, der draußen beobachtet hätte – fürchtete man sich doch vor neugierigen Nachbarn, oder der Polizei.

Vielleicht hätte man durch ein Fenster beobachtet, wie sei ruhiger wurden und sich an kleineren Dingen erfreuten. Noch alte Flaschen in den Regalen, verschmutzte Magazine und Pornozeitschriften auf dem Boden. Vielleicht hätte man gesehen, wie die jungen Männer, fast noch Jungs, nicht wussten, wie sie in der Gruppe darauf reagieren sollten und schließlich in Kindermanier die Zeitungen auszumalen anfingen. Vielleicht hätte man gesehen, dass einer von Ihnen in die obere Etage ging und die anderen das nicht bemerkten. Und vielleicht hätte man genau gewusst, was passiert wäre, wen man ein Knarzen, ein Knacken und ein ohrenbetäubendes rauschendes Rumsen gehört hätte. Vielleicht hätte man den Staub in die Nase gekriegt und vielleicht hätte man die 2 anderen jungen Männer, fast noch Jungs auf den Hof laufen sehen, als die Treppe einstürzte. Der eine, mit der verschämt bemalten Pornozeitung in der Hand.

Vielleicht.

Ich treffe bei den Recherchen für die Ausstellung in einem Shisha-Café auf der Eisenbahnstraße einen jungen Mann namens Marek. Er sieht gepflegt aus, er macht eine Ausbildung zum Elektriker in der Konstantinstraße. Wir kommen ins Gespräch. Ich hatte eigentlich vor, mich mit dem Thema Kindheit in der Neustadt zu beschäftigen und frage ihn nach seiner ganz persönlichen Geschichte über die Neustadt. Er zögert kurz, lächelt dann aber und erzählt. Er habe seine Identität hier wiedergefunden, und das erst vor 2 Jahren. Er sei damals perspektivlos gewesen, habe nichts mit sich anzufangen gewusst und hätte viel rumgehangen. Damals wäre er mit ein paar Freunden in ein Abrisshaus eingestiegen und der eine hätte sich beim Einsturz der Treppe schwer verletzt. Er hätte beim Rauslaufen in der Hand noch eine Zeitung in der Hand gehabt, eine Pornozeitung. Und er hätte sie, Gott weiß warum mitgenommen. Und erst zu Hause wäre ihm aufgefallen, dass Sie nicht Deutsch gewesen sei. Ungarisch! Wie ein Zeichen! Ein Zeichen, dass er hier zu Hause sein durfte. Glaubte er doch tief im Innern als Sohn einer ehemaligen aus Ungarn stammenden Vertragsarbeiterfamilie immer nicht ganz angekommen gewesen. Etwas entwurzelt, etwas entrückt. Und nun dieses Zeichen, wer weiß woher. aufbewahrt hatte er sie, die Pornozeitung. Und in ihrer Hässlichkeit wäre sie für ihn so schön gewesen und hätte so viel bedeuted.

„Und da endlich hab ich gewusst, was mir gefehlt hat. Ich hab das mit der Zeitung irgendwie so gesehen, dass es ein Wink war. ‚Hallo, du bist hier Willkommen! Du darfst so sein, wie du bist.‘ Und wenn’s nicht wichtig gewesen wär, also so unterbewusst … dann hätt ich die Zeitung ja wohl nicht unwillkürlich mitgenommen, oder?“ Er schmunzelt. „Ich mein, ich wusste ja immer, wo ich ursprünglich herkomm‘. Meine Mutter hat ja oft genug von Ungarn erzählt … und davon wie es hier als Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR so zuging, aber … irgendwie hab ich noch meine eigene Schubs in die Realität gebraucht. Und da war er.“

Bis zum Ende der DDR kamen aus verschiedenen ehemaligen sozialistischen Partnerländern wie zum Beispiel Vietnam, Mosambik, Angola oder Ungarn fast 94.000 Vertragsarbeiter ins Land. Sie stellten damit die größte Gruppe der Ausländer in der DDR. Die Arbeiter sollten hier einen Facharbeiterabschuss erlangen und den Arbeitskräftemangel der DDR decken.

Die Leipziger Neustadt diente insbesondere in den 70er Jahr des vergangenen Jahrhunderts als Wohnstätte für viele Vertragsarbeiter in der Stadt. Besonders aber nach der Wende, als eine regelrechte Flucht aus diesem Stadtteil stattfand, belebten viele Migranten das Viertel wieder und machten es zu der bunten Kulisse, die es heute ist.

Literatur und Quellen:
Marianne Krüger-Potratz: Anderssein gab es nicht. Ausländer und Minderheiten in der DDR. Waxmann, Münster 1991

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Autor:
Verena Böß


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