Fahrkarte

 

Neustädter Fundstücke

Fahrkarte

48 x 79 mm
Papier
Fundort: Tramhaltestelle Einertstraße
gefunden am: 27.04.2012

»Einzelfahrkarte Kind« – ein kleines Stück Papier, für einen Euro zu kaufen. Für 60 Minuten hat es seinen Nutzen erklärt. Danach ist es ein wertloses, bedrucktes Stück Faser ohne Besitzer. Aufgehoben und verstanden, erzählt es eine Geschichte. Vom Warten und Ankommen. Von Bewegung und Stillstand.

Haltestelle Einertstraße. Im gefühlten Minutentackt fahren Straßenbahnen vorbei, Richtung Hauptbahnhof oder weiter Richtung Osten. Die Tram 1, die 8, die 3 und dann noch einmal die 8.
Aussteigen, einsteigen. Kinderwagen rein tragen oder raus tragen, kurz die Türen aufhalten, weil jemand noch einsteigen möchte.
Circa 10 Sekunden bleiben die Türen offen, dann ertönt das Einsteige-Warngeräusch. Es gibt eigentlich keinen Grund zu hetzen, oder nach der Bahn zu rennen, denn kaum ist eines dieser lauten Fahrzeuge außer Sichtweite, kommt ein neues angerollt – Bringt Menschen ans Ziel, und holt neue ab.
Familien mit Kinderwagen sind genau so unterwegs wie Studierende auf dem Rad. Die Geschwindigkeiten unterscheiden sich – einige gehen langsam, manche etwas schneller,
wenige eilen auf die andere Straßenseite. Je nachdem, was man möchte – wohin man möchte.
Trotz der emsigen Geschäftigkeit scheinen alle auf etwas zu warten; auf die nächste Bahn, darauf, dass ein Platz auf der Bank frei wird, oder das sie einsteigen können.
Die Autos auf der Straße warten darauf, dass die Straßenbahn weiterfährt und der Fahrweg nicht mehr blockiert wird. Kinder warten auf ihre Eltern.
Jugendliche stehen an der Straßenseite und unterhalten sich – telefonieren, oder tippen auf ihren Handys herum.

Zwei circa achtjährige Jungen suchen ein Zwei Euro Stück – sie haben es wohl an der Haltestelle verloren. Vielleicht wollen sie sich einen Fahrausweis kaufen?
Nach knapp fünf Minuten des Suchens finden sie es wieder. Jedoch steigen sie nicht in die Bahn, sondern laufen weiter Richtung Osten die Eisenbahnstraße entlang.

In den letzten Jahren hat sich hier viel verändert: Lebensgeschichten gingen zu Ende, neue begannen. Leerstand, Umzüge, Neugründungen. Ein Kommen und Gehen. Niemand weiß genau wie lange er bleibt und wohin er geht. Die Eisenbahnstraße scheint in ständiger Bewegung zu sein – so wie die Straßenbahn.
Mit einem Euro ist die »Einzelfahrkarte Kind« der günstigste Fahrschein, den man sich kaufen kann. Kind=Hund=Fahrrad. Das Elternteil, der Hundemensch,
oder der Radliebhaber -alle bezahlen gleichviel, um ihren geliebten Fahrgast mitzunehmen. Dem Fahrscheinautomaten ist das egal.
Hinter jedem Fahrgast steckt eine Geschichte, ein Leben, ein Gedanke wohin die Reise führen soll. Hoffnungen, Ängste, Termine die zu erledigen sind oder Anrufe, die noch zu tätigen wären.
Setzt man sich an die Haltestelle und wartet, scheint das Leben noch viel schneller als gewöhnlich vorbeizuziehen. Wenn man jedoch aufmerksam hinhört und die Augen offen hält, wird man für diese Zeit ein Teil dieses Geschehens. Ein Teil der Eisenbahnstraße: laut, bunt, geschäftig und voller offener Fragen, die es zu beantworten gilt.

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Autor
Julia Perkuhn

Neustädter Fundstücke

 

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