Nachbarn

„Die Bewohner eines gleichen Wohnhauses wohnen nur einige Zentimeter voneinander entfernt, eine einfache Wand trennt sie, sie teilen sich die gleichen Räume, die sich über die Stockwerke hinweg wiederholen, sie machen zur gleichen Zeit die gleichen Bewegungen, den Wasserhahn aufdrehen, an der Wasserspülung ziehen, das Licht anknipsen, den Tisch decken, einige Dutzend gleichzeitiger Existenzen, die sich von Stockwerk zu Stockwerk, von Haus zu Haus und von Straße zu Straße wiederholen.“

Georges Perecs – Das Leben. Gebrauchsanweisung

Den Klingelschildern zu Folge leben in meinem Haus 32 Personen, gestapelt auf etwa 180 m² übereinander und nebeneinander. Von diesen 32 Personen kenne ich 7 beim Vornamen – meine zwei Mitbewohnerinnen und mich eingeschlossen.
Besonders im städtischen Wohnraum beschränken sich die Interaktion zwischen Nachbarn häufig auf den Austausch von Paketen und einem gemurmelten „Hallo“ im Treppenhaus.
Aufgrund der Covid-19-Pandemie und den damit verbundenen Lockdowns verbringen wir wohl so viel Zeit zu Hause wie nie und trotzdem weiß ich so gut wie nichts über meine Nachbarn.
Schon lange suchte ich nach einer Möglichkeit, dieser Anonymität entgegenzuwirken und unter normalen Umständen wäre hierfür die einfachste Variante zu einer Party einzuladen oder gemeinsam zu Grillen, nicht jedoch in diesen Zeiten.
Daher suchte ich nach einer Möglichkeit, auf sichere Art Kontakt aufzunehmen und stieß dabei schließlich auf eine Projektidee.

DAS PROJEKT

„Nachbarn“ ist ein Projekt, welches danach strebt, in Zeiten des Abstandhaltens hinter verschlossenen Türen Gemeinsamkeit zu schaffen.
Ihm liegt sowohl die Absicht zugrunde, einen Moment der Gemeinschaft innerhalb eines Hauses zu erschaffen, als auch innerhalb einer weltweiten Zeit der Einsamkeit.
Mittels Einwegkameras werden die Mauern zwischen den Wohnungen gewissermaßen beseitigt und kleine, gesteuerte Einblicke in das Leben der Nachbarn werden ermöglicht.

Zugleich dient das Projekt der spielerischen Annäherung an das Thema analoge Fotografie.
Die Beschäftigung mit analoger Fotografie scheint vielen heutzutage obsolet und doch spielt sie in diesem Projekt eine entscheidende Rolle.
Durch die Limitierung der Schüsse pro Thema erlangt die Auswahl des Motivs eine Bedeutung, die bei digitaler Fotografie, beispielsweise mit dem Handy, in den Hintergrund rückt.
Auch die Möglichkeit, das Bild direkt im Anschluss zu editieren entfällt in diesem Fall, was höheres Maß an Planung des Motivs erfordert.
Mittels Einwegkameras werden die Mauern zwischen den Wohnungen gewissermaßen beseitigt und kleine, gesteuerte Einblicke in das Leben der Nachbarn werden ermöglicht.

Projektkonzept

Duchführung

An jede Wohnung des Hauses wurde eine Einwegkamera mit folgenden Fotografie-Anweisungen verteilt.

Die Fotografie-Anweisungen entstanden aus einer Gratwanderung zwischen Neugier und Berücksichtigung der Privatsphäre der Teilnehmer.
Zwar war ausdrücklich die Option gegeben, anonym teilzunehmen, jedoch sollte den Teilnehmern doch die größtmögliche Freiheit in der Wahl der Motive gelassen werden um nicht zu viel des eigenen Lebensraums preisgeben zu müssen.
Insgesamt wurden 10 Kameras verteilt. Die Bewohner hatten, sollten sie am Projekt teilnehmen wollen, etwa 1 1/2 Wochen Zeit für die Durchführung
Durch die Freiwillige und ungeplante Teilnahme an dem Projekt war eine konkrete weitere Planung zunächst schwierig, da bis zum Ende des Zeitraums nicht klar war, wie viele der Bewohner teilnehmen würden.
Das Warten auf die Kameras war zugleich aufregend als auch sehr ereignislos, da alle Teilnehmer ihre Kamera erst am letztmöglichen Tag zurückgaben. Bis auf eine, nach wie vor verschollene, wurden alle Kameras mit vollen Filmen zurückgegeben.

Darauf folgte eine weitere aufregende, ereignislose Zeit – das Warten auf das Entwickeln der Fotos.
Unglücklicherweise konnten bei allen Kameras einige Fotos nicht Entwickelt werden, vermutlich hauptsächlich die Fotos, die ohne Blitz geschossen wurden.
Nichtsdestotrotz erfolgte aus den Fotos eine spannende Gegenüberstellung der verschiedenen Lebensweisen der Bewohner des Hause

Aus diesen Fotos wird ein Heft erstellt, welches wiederum an die Bewohner des Hauses verteilt wird, um auch für die Teilnehmer einen Einblick in die anderen Wohnungen zu ermöglichen.

Die Rückmeldungen der Teilnehmer waren sehr positiv, viele fügten ihrer Kamera eine Notiz bei, die ihren Freude am Fotografieren und die Neugier auf die Ergebnisse mitteilten.

FAZIT

Obgleich das Projekt sehr erfolgreich verlief, wären durch einzelne kleine Änderungen einige Fehler wohl nicht unterlaufen. So würde ich bei erneuter Durchführung wohl auf das Fotografieren im Innenraum mit Blitz hinweisen, damit eine größere Anzahl von Fotos auch tatsächlich entwickelt werden können.
Das Prinzip des Projekts ist auf viele andere Situationen und Menschengruppen übertragbar, so kann ich mir beispielsweise auch eine Durchführung in Schulklassen oder am Arbeitsplatz unter Kollegen vorstellen um einen Eindruck der anderen Lebenswirklichkeiten zu erlangen. Hierfür müssten die Fotografie-Anweisungen selbstverständlich den Rahmenbedingungen angepasst werden.

Ob das Projekt meinen Nachbarn letztendlich ein Gefühl der Gemeinschaft vermitteln konnte, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.
Mit Sicherheit kann ich jedoch behaupten, dass das Beschäftigen mit Fotografie und das Suchen nach Motiven in den eigenen vier Wänden vielen immerhin eine willkommene Abwechslung zu den andernfalls sehr tristen Lockdown-Tagen bot, die momentan wohl jeder mit offenen Armen begrüßt.