Fineliner

Fineliner
Neustädter Fundstücke

Fineliner

90 x 80 x 9 mm
Kunststoff, Metall
Fundort: Schulhof der Wilhelm-Wander-Schule

Diesen roten Fineliner fand ich angeschnitten, zerknickt und mit eingedrückter Mine auf dem Schulhof der Wilhelm-Wander-Schule in der Leipziger Neustadt.


Manchmal ist es wie im Kino und die guten Ideen fallen einfach vom Himmel. Fast unglaublich, dass sich gute Geschichten wie von selbst entwickeln können, nur wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Und etwas Glück hat. So passiert auf meiner Suche nach einem Fundstück im Kontext mit der Historie seines Fundortes.
An einem sonnigen späten Vormittag führte mich mein Weg auf der Suche nach geschichtsträchtigen Funden in die Leipziger Neustadt. Im Schatten der frisch grünenden Bäume schlenderte ich an einem altehrwürdigen Schulgebäude vorbei. Sicherlich ließe sich hier etwas Interessantes finden dachte ich und umlief das Haus. Letztendlich stand ich auf dem Schulhof und sah mich um. Einige Fenster standen offen, Lachen und Kinderstimmen erregten meine Aufmerksamkeit. Ein lockiger Jungenkopf mit Brille erschien an einem Fenster, warf etwas heraus und verschwand gleich wieder. Tumult im Klassenraum und dann plötzlich wieder Stille. Eine Frau schloss dann das Fenster.
Neugierig suchte ich nach dem Wurfgeschoß des Jungen, das im Staub des Hofes lag. Ein zerbrochener Fineliner, rot. Ich fotografierte ihn, hob ihn auf und nahm ihn mit. Dann setzte ich mich auf eine Bank am Neustädter Markt mit Blick auf die Schule, um darüber nachzudenken, was ich mit dem Flug- und Fundstück nun anfangen könnte. Ich hörte die Schulglocke und kurze Zeit später füllte sich der Schulhof mit Kindern. Hofpause. Zwischen den mindestens einhundert, rennenden, schreienden, spielenden oder nur miteinander redenden Kindern, meinte ich den bebrillten Lockenkopf zu erkennen, den ich am Fenster gesehen hatte. Er und zwei andere Jungen schienen etwas zu suchen…
Ich fasste mir ein Herz und ging auf eine Dame zu, die wie es mir schien als Aufsichtspersonal auf dem Schulhof stand. Ich stellte mich und mein Anliegen vor und fragte, ob ich kurz mit dem Jungen sprechen könnte. Sie sah mich etwas erstaunt an, begleitete mich dann aber zu ihm.
Dem Jungen und seinen Freunden zeigte ich den roten Fineliner und fragte, ob sie den suchten. Sie schauten mich an und nickten verlegen. Auf meine Frage, warum sie ihn aus dem Fenster warfen, antwortete mir der lockige Junge mit verstohlenem Blick auf die Lehrerin. Zum Glück musste die gerade einen Streit zwischen anderen Kindern schlichten. Flüsternd erzählte der Junge. In der letzten Stunde haben sie eine Heimat- und Sachkundearbeit aus der vergangenen Woche wiederbekommen. Es ging um die Geschichte ihrer Schule. Der Junge hatte sich nicht vorbereitet und seine Arbeit mit vielen roten Anmerkungen und einer fünf zurück bekommen. Als die Lehrerin das Klassenzimmer kurz verließ, um Arbeitsmaterialien zu holen, nahm er kurzerhand den roten Fineliner vom Lehrertisch, zerbrach ihn und warf ihn wütend aus dem offenen Fenster. Die Lehrerin hatte von alldem nichts bemerkt.
Mit der Beantwortung meiner Frage, was er denn von der Geschichte der Schule wisse, halfen ihm seine Freunde aus. Sie erzählten mir, was sie erfahren und gelernt hatten und ich schrieb es mir in mein Notizbuch. Die Schule wurde 1878 eingeweiht und als 18. Bezirksschule des  „Neuen Anbaus“ im  Schönefelder Stadtteil eröffnet. Über 650 Schüler begannen damals in der Schule zu lernen, nach dem sie vorher in weiter entfernten Schulen bzw. provisorischen Räumlichkeiten unterrichtet wurden. Der erste Direktor war ein Oberlehrer namens Schütz. In der Schule waren damals auch Gemeinderäume und Arrestzellen untergebracht. Später wurde die Schule zur 15. Volksschule. In der Zeit des Sozialismus in der DDR wurde die Schule in den 1960er Jahren zur Polytechnischen Oberschule (POS) und nach der Wende 1992 zur Wilhelm-Wander-Schule, benannt nach einem deutschen Pädagogen und Germanisten, der die größte Sammlung von Sprichwörtern in deutscher Sprache anlegte.

Ich bedankte mich bei den Jungen und versprach Ihnen, niemanden etwas vom „Fliegenden roten Fineliner“ zu erzählen.

Quellen
Zur Geschichte der Wilhelm-Wander-Schule

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Autor
Sarah Pieper

Neustädter Fundstücke